EUROPA DENKEN SIE IMMER DARAN: SIE HABEN EIN RECHT AUF DIE WAHRHEIT
Seite 7 Antwort 98
http://www.dieaufdecker.com/index.php?topic=943.90https://www.jura.uni-bonn.de/lehrstuhl-prof-dr-dr-di-fabio/aktuelles/08.01.2016 DR DR UDO DI FABIO MIGRATIONSKRISE ALS FOEDERALES VERFASSUNGSPROBLEM 92 Seiten
https://www.jura.uni-bonn.de/fileadmin/Fachbereich_Rechtswissenschaft/Einrichtungen/Lehrstuehle/Di_Fabio/Gutachten_Prof_Di_Fabio_Bonn.pdf20160108 DR DR UDO DI FABIO MIGRATIONSKRISE ALS FOEDERALES VERFASSUNGSPROBLEM.pdfhttp://www.dieaufdecker.com/index.php?action=dlattach;topic=943.0;attach=9496Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung 08.01.2016 DR DR UDO DI FABIO MIGRATIONSKRISE ALS FOEDERALES VERFASSUNGSPROBLEM Transkription Seite 31-61f5. Pflicht zur Einwirkung auf Dritte, insbesondere in den Organen der Europäi-
schen Union
Die aus der Bundestreue hervorgehende Pflicht zum positiven Handeln kann zur Folge
haben, dass der Partner auch zu einer Einwirkung auf Dritte verpflichtet ist. Für den
Bund kann dies bedeuten, dass ihn die Pflicht trifft, sich für die Wahrung der Rechte und
Interessen der Länder auch in den Organen der Europäischen Union einzusetzen.38 Zwar
hat das Bundesverfassungsgericht eine so konturierte Pflicht bisher explizit nur für den
Fall statuiert, dass Länderrechte bei Fragen des Bestehens bzw. der Reichweite von
Rechtsetzungskompetenzen der Europäischen Union für Gegenstände vertreten werden
müssen, welche die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder betreffen. Es
kann aber nichts anderes gelten, wenn der Bund – sei es im Rahmen der ausschließlichen
oder der konkurrierenden Gesetzgebung – selbst für die Gesetzgebung zuständig ist.
38 Hartmut Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20
Rn 40; vgl. auch Hartmut Bauer, Die Bundestreue, § 12 II 3. a) (S. 310).
39 BVerfGE 81, 310 (322).
6. Rechtsverletzung als Verstoß gegen den Grundsatz der Bundestreue
Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass nicht jede Rechtsverletzung bei der
Ausübung eigener Kompetenzen zugleich ein Verstoß gegen die Bundestreue darstellt. In
einem entsprechenden Verfahren war gegenüber einer atomrechtlichen Weisung des
Bundes vom betroffenen Land geltend gemacht worden, die Weisung verstoße gegen
Bundesrecht, weil sie letztlich das Grundrecht der Bürger auf Leben und auf körperliche
Unversehrtheit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletze. Der Bund dürfe seine
Weisungsbefugnis nur ausüben, um ein gesetzmäßiges und zweckmäßiges Verwaltungs-
handeln des Landes im Bereich der Auftragsverwaltung sicherzustellen. Rechtswidrige
Weisungen verletzten - so der Vortrag des antragstellenden Landes39 - demnach das Land
in seiner Verwaltungskompetenz.
Dazu hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden:
„Eine Verletzung des Landes in seinen kompetentiellen Rechten liegt auch dann nicht
vor, wenn der Inhalt der Weisung, die das Land auszuführen hat, wegen eines Verfas-
sungsverstoßes, insbesondere einer Grundrechtsverletzung rechtswidrig ist. Ein Land
kann kraft seiner Kompetenz vom Bund nur die Achtung solcher Verfassungsnormen
verlangen, die die Bundesgewalt in ihrer Auswirkung auf das Verfassungsleben der
Länder beherrschen und damit eine rechtliche Beziehung zwischen Bundesgewalt und
Landesgewalten herstellen (.).“40
40 BVerfGE 81, 310 (333).
41 BVerfGE 81, 310 (334).
Und weiter:
„Die Länder haben also dem Bund gegenüber kein einforderbares Recht, dass dieser
einen Verstoß gegen Grundrechtsbestimmungen unterlässt. Die Länder sind nicht
Träger von Grundrechten. Sie können auch nicht deshalb, weil sie Aufgaben im Inte-
resse der Allgemeinheit wahrnehmen, Sachwalter des Einzelnen bei der Wahrneh-
mung seiner Grundrechte sein.“41
Es ist ersichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht im Bund-Länder-Streitverfahren
keine allgemeine Gesetzesaufsicht über den Bund ausüben will und das auch ersichtlich
ein Missbrauch dieses speziellen Verfahrens wäre. Im damaligen Verfahren ist das Land
Nordrhein-Westfalen als Garant der Grundrechte seiner Bürger aufgetreten, weil diese
durch eine kerntechnische Anlage (dem Schnellen Brüter Kalkar) in ihrem Grundrecht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit gefährdet würden. Dabei war klar, dass das
Atomgesetz des Bundes die entsprechende Grundentscheidung im Hinblick auf die not-
wendige Risikovorsorge getroffen hatte und die Bürger selbst im Rahmen verwaltungsge-
richtlicher Verfahren und notfalls mit der Verfassungsbeschwerde ihre Grundrechte
wahrnehmen können.
Man wird umgekehrt die Kalkar-Entscheidung aus dem Jahr 1990 aber auch so verstehen
müssen, dass Länder (wie auch der Bund gegenüber einem Land) eine Pflichtverletzung
der jeweils anderen Ebene rügen können, wenn es um Rechtsverletzungen geht, die sich
unmittelbar auf den eigenstaatlichen Kompetenzraum der Länder auswirken (Art. 30
GG). Wenn der Gesetzesvollzug der einen Ebene sich unmittelbar auf die Kompe-
tenzwahrnehmung der anderen Ebene nicht nur unerheblich auswirkt, weil es eine sach-
lich eng verwobene Kompetenzwahrnehmung zwischen Bund und Ländern gibt, hat das
Interesse am gesetzmäßigen und wirksamen Vollzug der anderen Ebene nichts mit einer
allgemeinen Rechtsaufsicht im föderalen Verhältnis und auch nichts mit der Wahrneh-
mung der Rechte Dritter (wie im Atomrecht) zu tun. Dies gilt erst recht, wenn die eine
Seite gar existentiell von der rechtmäßigen Kompetenzwahrnehmung der anderen Ebene
abhängt.
Im vorliegenden Fall der Migrationskrise liegen die Verhältnisse jedenfalls deutlich anders
als im Streit über eine atomrechtliche Genehmigung, die ohnehin nach der Kompetenz-
verteilung überwiegend eine Bundesangelegenheit war, die lediglich (indes als Bundesauf-
tragsverwaltung) von den Ländern wahrgenommen wurde. Im Zusammenhang mit der
aktuellen Migrationskrise geht es unmittelbar um die Möglichkeit der Kompetenzwahr-
nehmung der Länder im Sinne des Art. 30 GG, weil diese vom Grundgesetz zuständig
erklärt sind für Folgen und Konsequenzen, die durch eine in Teilen unkontrollierte und
auch quantitativ kaum beherrschbare Einreise in das Bundesgebiet entstehen oder künftig
verstärkt entstehen können. Nur ein – allerdings signifikantes – Beispiel ist § 44 Asylge-
setz, der die Länder verpflichtet, für die Unterbringung Asylbegehrender die dazu erfor-
derlichen Aufnahmeeinrichtungen zu schaffen und zu unterhalten sowie entsprechend ihrer Auf-
nahmequote die im Hinblick auf den monatlichen Zugang Asylbegehrender in den Aufnahmeeinrichtun-
gen notwendige Zahl von Unterbringungsplätzen bereitzustellen. Eine solche Rechtspflicht kann
mit den Mitteln eines Landes nur dann korrekt erfüllt (und kann einem Land auch nur
dann aufgegeben) werden, wenn der Bund seinerseits die gesetzlich vorgesehene Einreise
wirksam kontrolliert und von der gesetzlich vorgesehenen Zurückweisung Gebrauch
macht. Die hier bestehende außerordentlich enge Verschränkung von Kompetenzen des
Bundes und der Länder begründet eine besondere Abhängigkeit der Ebenen voneinander
und vermittelt deshalb einen ganz spezifischen, ein Verfassungsrechtsverhältnis erzeu-
genden Charakter.
7. BVerfG: Grober Verfassungsverstoß bei kollektiven Existenzgefährdungen
a) Staatlichkeit als tragende Verfassungsvoraussetzung
Als Gegenstand der Verfassung setzt das Grundgesetz – wie überhaupt jede Verfassung -
Staatlichkeit gerade voraus, weil anders die fundamentalen Staatsstrukturprinzipien wie
Demokratie oder Rechtsstaat ins Leere gingen, ihren Bezug verlören. Ein unversehrter,
handlungsfähiger Staat ist dem Grundgesetz als normativer Gestaltungsgegenstand und
als demokratischer Selbstentfaltungsraum des Volkes notwendige Bedingung und verfas-
sungsrechtlich geschützt. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade im Prozess der euro-
päischen Integration mehrfach Hinweise auf die Bedeutung staatlicher Identität und
Handlungsfähigkeit gegeben.42 Aber auch in der bereits angeführten Kalkar-Entscheidung
hat das Bundesverfassungsgericht klare Worte gefunden:
42 BVerfGE 123, 267 (356) und bereits E 89, 155 (207).
43 BVerfGE 81, 310 (334).
„Eine Grenze alleiniger Gemeinwohlverantwortlichkeit des Bundes ergibt sich aller-
dings in dem äußersten Fall, dass eine zuständige oberste Bundesbehörde unter gro-
ber Missachtung der ihr obliegenden Obhutspflicht zu einem Tun oder Unterlassen
anweist, welches im Hinblick auf die damit einhergehende allgemeine Gefährdung
oder Verletzung bedeutender Rechtsgüter schlechterdings nicht verantwortet werden
kann. Diese Grenze folgt daraus, dass bei der Ausführung von Bundesgesetzen Bund
und Länder – unbeschadet bestehender Kompetenzverteilung – eine gemeinsame
Verantwortung für den Bestand des Staates und seiner Verfassungsordnung sowie für
die Abwehr kollektiver Existenzgefährdungen tragen.“43
Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht des Bundes, von dem Land
nichts zu fordern, was schlechthin außerhalb des von einem Staat Verantwortbaren liegt.
Und mehr noch: Geht es um den Bestand des Staates – also der föderalen Republik – so
kann ausnahmsweise sogar die Trennlinie zwischen abgegrenzten Kompetenzräumen
aufgehoben werden. Einen groben Verfassungsverstoß sieht das Bundesverfassungsge-
richt in Fällen, in denen die Kompetenzwahrnehmung des Bundes nicht unmittelbar in
den eigenstaatlichen Kompetenzraum der Länder eingreift, sondern gleichsam die tragen-
den Grundlagen des Gesamtstaates erfasst. Für einen solchen Fall wurde schon zuvor
diskutiert, ob der Bund Kompetenzen in Anspruch nehmen darf, die den Ländern zuge-
wiesen sind oder ob umgekehrt die Länder auch Bundeskompetenzen ausüben dürften,
also beispielsweise durch eigene Kräfte der Landespolizei die Grenzsicherung überneh-
men dürften. Hierzu hat der Münchner Staatsrechtslehrer Peter Lerche folgendes vertreten:
„Dort, wo im Bundesstaat der primär zuständige Kompetenzträger, wer immer es sei,
seiner Verfassungspflicht nicht vollständig nachkommt, (.) dort entstehen Eintretens-
pflichten für den jeweils anderen Kompetenzträger, dort weiten sich dessen Kompe-
tenzen sozusagen unter der Hand aus (ohne daß allerdings die Kompetenzordnung
des Grundgesetzes strukturell gesprengt werden dürfte).“44
44 Peter Lerche, Forschungsfreiheit und Bundesstaatlichkeit, in: FS für Theodor Maunz, 1981, S.
215 (218 f.).
45 Markus Heintzen, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaatsrecht. Zugleich zum Standort
des föderalen Kompetenzrechts im Verfassungsgefüge, Bonn Habilitationsschrift 1993, Typo-
skript, S. 725 ff.
In einer ähnlichen Konstellation des Verantwortungsausfalls untersucht Markus Heintzen den
Fall, dass die Länder es versäumen, europäisches Recht umzusetzen oder auszuführen.
Hier wird gefragt, ob der Bund dann eine „Reservezuständigkeit“ in Anspruch nehmen
kann.45 Diese Frage müsse verneint werden, sofern nicht durch den Verstoß gegen Uni-
onsrecht zugleich das Schicksal des Gesamtstaates oder die föderale Existenzgrundlage
auf dem Spiel steht. Gestützt auf das Bundesstaatsprinzip und den Grundsatz der Bun-
destreue wird in dem Grenzfall der das Bundesgefüge bedrohenden Krise und dem parti-
ellen Verantwortungsausfall einer Ebene eine (begrenzte) Durchbrechung der Kompe-
tenzordnung in dem Sinne für möglich gehalten, dass die an sich unzuständige Ebene
Kompetenzen der handlungsunwilligen oder handlungsunfähigen Ebene jedenfalls vo-
rübergehend übernimmt.
Im Fall einer über einen längeren Zeitraum anhaltenden unkontrollierten und massenhaf-
ten Einreise in das Bundesgebiet könnte man im Blick auf die Drei-Elemente-Lehre, aber
auch im Hinblick auf die gravierenden Auswirkungen auf die Möglichkeit zur eigenstaatli-
chen Aufgabenwahrnehmung der Länder, eine entsprechend dramatische Lage anneh-
men. Die Inanspruchnahme einer Reservezuständigkeit eines Landes anstelle des Bundes,
die Grenzsicherung mit eigenen Landespolizeikräften zu übernehmen, ist thematisch vom
vorliegenden Gutachten nicht erfasst. Zwar wäre der Freistaat bereit, die Grenzsicherung
durch eigene Landespolizeikräfte in Übereinstimmung mit dem Bund zu unterstützen,
doch geht es vorliegend nicht um den Fall der Kompetenzdurchbrechung oder der Inan-
spruchnahme einer Reservezuständigkeit. Der Freistaat Bayern möchte lediglich den
Bund anhalten, seine verfassungsmäßigen Pflichten zur Erhaltung der kontrollierten
Staatlichkeit und zugleich seine Verantwortung für die Eigenstaatlichkeit der Länder
wahrzunehmen. Den Freistaat Bayern trifft deshalb keine gesteigerte Substantiierungslast
für den Grenzfall des groben Verfassungsverstoßes. Dies gilt erst recht, wenn man sich
vergegenwärtigt, dass vorliegend bereits aus der besonderen Verschränkung der Kompe-
tenzräume in der Sachmaterie Migration eine Pflicht des Bundes gegenüber den Ländern
besteht, seine Verantwortung auch im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Länder
auszuüben. Deshalb bedarf es nicht des Qualifikationsmerkmals eines „groben“ Verfas-
sungsverstoßes im Sinne der Kalkar-Entscheidung des BVerfG, um eine Pflicht des Bun-
des anzunehmen, den Einreisevorgang in das Bundesgebiet gesetzmäßig und wirksam zu
gewährleisten.
b) Wirksame Einreisekontrolle als Bestandteil von Staatlichkeit und demokrati-
schem Selbstbestimmungsrecht
Keine Ebene im Bundesstaat und kein zur Staatsleitung berufenes Verfassungsorgan
darf seine Kompetenzen so ausüben, dass die Staatlichkeit als Voraussetzung der demo-
kratischen Selbstbestimmung des Volkes verletzt oder gefährdet wird. Nach der staats-
theoretischen Drei-Elemente-Lehre hängt die Existenz eines Staates davon ab, ob er mit
einem wirksamen Gewaltmonopol die Bevölkerung auf einem abgegrenzten Gebiet kon-
trollieren und beherrschen kann. Die Drei-Elemente-Lehre definiert seit Georg Jellinek
deshalb einen Staat unter der Voraussetzung, dass ein Staatsvolk auf einem Staatsgebiet
unter der Herrschaft einer organisierten Staatsgewalt lebt.46 Eine der daneben am häufigs-
ten zitierten Definitionen von Staatlichkeit im völkerrechtlichen Sinne enthält die Montevi-
deo Convention on Rights and Duties of States aus dem Jahr 1933.47 Sie bestimmt in ihrem
Artikel 1:
46 Dazu Noel Cox, “The Acquisition of Sovereignty by Quasi-States: The Case of the Order of
Malta”, Mountbatten Journal of Legal Studies (im Erscheinen), S. 1 (2); Karl Doehring, Völker-
recht, 1999, S. 25.
47 Es handelt sich bei der Montevideo Konvention um ein Dokument der Pan American Union,
also der Vorgängerorganisation der Organization of American States; dazu Alan Vaughan Lowe,
International Law, 2007, S. 153.
The state as a person of international law should possess the following qualifica-
tions: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) ca-
pacity to enter into relations with other states.
Das Staatsvolk bildet das personelle Substrat eines Staates und das Subjekt demokra-
tischer Selbstbestimmung (Art. 20 Abs. 2 GG). Die Staatsangehörigen bilden einen auf
Dauer angelegten Zusammenschluss von Menschen („Schicksalsgemeinschaft“48), was
staatstheoretisch gewiss ein Mindestmaß an Zugehörigkeitsgefühl der einzelnen Mitglie-
der zu ihrem Personenverband erfordert, damit sie sich als politische Handlungsgemein-
schaft definieren. Soweit dieses Mindestmaß erfüllt ist, bedarf es keines darüber hinaus-
gehenden sprachlichen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Homogenitätserfordernis-
ses.49 Auf solche langfristig durchaus bedeutsamen Abgrenzungsfragen kommt es vorlie-
gend nicht an. Da es bei der Migrationskrise um keine unmittelbare Verleihung der
Staatsangehörigkeit, sondern um Einreise- und Aufenthaltsrecht geht, kommt es hier
nicht auf den drohenden Verlust der Identität des Staatsvolkes unmittelbar an, sondern
auf die Frage, wer und wie rechtmäßig und ohne Überspannung der verfassungsrechtli-
chen und völkerrechtlichen Schutzverantwortung über die zulässig auf dem Staatsgebiet
ansässige oder sich aufhaltende Bevölkerung entscheidet.
48 Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, S. 29.
49 Vgl. Matthias Herdegen, Völkerrecht, a.a.O. , S. 75; ferner A. V. Lowe, International Law, 2007,
S. 153 f.
50 Dazu Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 97 ff.
51 Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, S. 41; Alan Vaughan Lowe, International Law, 2007, S. 150
ff.
Innerhalb ihres jeweiligen Staatsgebiets üben die Staaten ihre Souveränität in exklusi-
ver Art aus. Nur sie sind berechtigt, unter Inanspruchnahme des Gewaltmonopols Ho-
heitsakte auf ihrem Territorium zu setzen. Souveräne Staatlichkeit schließt dabei „offene“
Staatlichkeit nicht aus.50 Vielmehr schließt sie das Recht ein – etwa vertraglich oder durch
stillschweigende Duldung – die Ausübung von Hoheitsrechten durch einen anderen Staat
im eigenen territorialen Herrschaftsbereich zuzulassen oder Hoheitsgewalt gemeinsam
auszuüben.51
In seiner Untersuchung über die Staatsgrenzen sieht Daniel-Erasmus Khan für alle drei
Elemente ein die Identität bestimmendes dem Grunde nach unaufgebbares Recht souve-
räner Staaten:
„Es muss daher auch grundsätzlich als eine genuine und legitime Regelungsmate-
rie des nationalen Rechts eines jeden Staates angesehen werden, den räumlichen Um-
fang seines Gebiets zu konkretisieren, wobei innerhalb der nationalen Rechtsordnung
wiederum das Verfassungsrecht die natürliche sedes materie für entsprechende Norm-
aussagen darstellt. Insoweit kann tatsächlich nichts anderes gelten als hinsichtlich der
anderen konstitutiven Elemente des Staates auch: ebenso wie es dem Staat grundsätz-
lich unbenommen ist, sein personales Substrat nach bestimmten Kriterien für sich zu
reklamieren und auf diesem Wege sein Staatsvolk zu konkretisieren und er ganz
selbstverständlich auch von der Möglichkeit Gebrauch macht, die Modalitäten der
Ausübung der Staatsgewalt im einzelnen festzulegen, so muss ihm sicher auch das
Recht zugestanden werden, den von ihm beanspruchten territorialen Besitzstand in
normativer Weise zu fixieren.“52
52 Daniel-Erasmus Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, Rechtshistorische Grundlagen und offene
Rechtsfragen, 2004, S. 30.
53 Matthias Herdegen, Völkerrecht, a.a.O. , S. 75; damit ist nur das Kriterium der Staatlichkeit
markiert, nicht jedoch die Frage beantwortet, inwiefern die menschenrechtlichen Standards des
modernen Völkerrechts ihrerseits Mindestanforderungen an die Ausübung von Regierungsgewalt
enthalten, insbesondere in Hinblick auf demokratische Mindeststandards.
54 Karl Doehring, Völkerrecht, 1999, S. 52; A. V. Lowe, International Law, 2007, S. 156.
Personelles und territoriales Substrat des Staates werden durch die Staatsgewalt mit-
einander verklammert. Inhaltlich ist diese Staatsgewalt einerseits dem Staatsgebiet zuge-
ordnet (Gebietshoheit), andererseits wird sie gegenüber dem Staatsvolk ausgeübt (Perso-
nalhoheit). Das Staatsvolk wird im Selbstbestimmungsrecht der Völker als maßgebliches
Subjekt der Staatgewalt sichtbar, auch unabhängig von der Staatsform. Innerhalb des
Staatsverbandes sichert die Staatsgewalt die Ordnungsaufgaben des Staates; nach außen
beweist sie Handlungsfähigkeit im völkerrechtlichen Verkehr. Völkerrechtlich erforder-
lich ist lediglich Effektivität der Staatsgewalt, nicht aber deren (demokratische) Legitimi-
tät.53 Das bedeutet, die Regierung muss in der Lage sein, Kontrolle über Staatsvolk auf
einem definierten Staatsgebiet auszuüben.54
Sobald territoriale Grenzen nicht mehr behauptet werden können, historisch vor allem in
Konkurrenz zu Nachbarstaaten (wie dies etwa jüngst im Fall der Krim-Annexion bei der
Ukraine der Fall war), gerät die Staatlichkeit ins Wanken, wenn der attackierte Staat fort-
gesetzten Gebietsverlusten nicht militärisch (sei es mit oder ohne internationale Hilfe)
entgegentreten kann. Bei innerstaatlicher Konkurrenz um das Gewaltmonopol – also um
das Element der Staatsgewalt – im Falle Bürgerkrieges (so etwa für das Assad-Regime in
Syrien) wird ebenfalls der Staatscharakter fraglich.
Kann ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Territorium nicht mehr
kontrollieren, ist ebenfalls seine Staatlichkeit in Gefahr, schon weil das Staatsvolk und
seine für es handelnden Organe (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Gefahr laufen, ihre personelle
und territoriale Schutzverantwortung zu überspannen und die Funktionsfähigkeit als so-
zialer Rechtsstaat zu verlieren. Ein möglicher Verlust der Einreisekontrolle ist wegen die-
ser elementaren Bedeutung nie auf die Zuständigkeit der Bundesebene (oder umgekehrt
der Landesebene) allein begrenzt, weil der besondere Charakter einer gravierenden Be-
völkerungsveränderung auf allen gliedstaatlichen Ebenen unmittelbare Folgen hervorruft –
und zwar gerade im geordneten Verfassungsstaat, der jeden einzelnen als Rechtssubjekt in
seiner Würde und freien Persönlichkeitsentfaltung zu schützen verspricht.
Die Kontrolle über die drei Elemente der Staatlichkeit ist insofern keineswegs nur ein
Gegenstand für staatstheoretische Reflexionen, sondern eine zwingende Voraussetzung
für die Möglichkeit von freiheitlichen Demokratien. An der Verantwortung der Verfas-
sungsorgane der Bundesrubrik Deutschland für die Integrität und Effektivität im Hin-
blick auf die drei Elemente jeder Staatlichkeit ändert sich auch dann nichts, wenn die
Ausübung entsprechender Kompetenzen im unionsrechtlichen System koordiniert oder
vergemeinschaftet wird. Scheitert die effektive Beherrschung der drei Elemente jeder ge-
ordneten Verfassungsstaatlichkeit im konkreten unionsrechtlichen System, so trifft die
deutschen Verfassungsorgane eine Einstandspflicht und Gewährleistungsverantwortung,
die im föderalen Verhältnis maßgeblich dem Bund zukommt. Die nähere Analyse der Zu-
ständigkeitsverteilung im föderalen Gefüge und im europäischen Mehrebensystem spricht
dafür, dass der Bund als maßgeblicher Akteur inzwischen ein Rechtssystem verantwortet,
dass dysfunktional geworden ist, weil es in schwerwiegender Weise deformiert ist und
seine Zwecke zur Zeit nicht zu erfüllen vermag.
III. Verschränkte Kompetenzräume und Abhängigkeit der Länder vom Bundes-
verhalten
1. Nationaler Regelungsrahmen
a) Die Vorschriften des Aufenthaltsrechts
Das Aufenthaltsrecht findet seinen Niederschlag nicht nur im AufenthaltsG, sondern
darüber hinaus auch in einer Vielzahl von weiteren Gesetzen, Verordnungen, Verwal-
tungsvorschriften, ministeriellen Anwendungshinweisungen und Erlassen.55
55 Dazu Reinhard Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Handbuch, 5. Auflage 2015, § 1
Rdnr. 4 ff. Zum Verhältnis der verschiedenen Rechtsquellen zueinander und die Einwirkung des
Völkerrechts auf das innerstaatliche Recht siehe Kay Hailbronner Asyl- und Ausländerrecht, 3.
Auflage 2014, Rdnr. 60 ff.
56 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 118 f.
57 Ausländergesetz vom 28.4.1965, BGBl. I, S. 353.
58 Ausländergesetz vom 9.7.1990, BGBl. I, S. 1354.
aa) Entwicklung des Ausländerrechts als Bundesmaterie
Aus der Verfassung ergeben sich verschiedene Gesetzgebungskompetenzen, die für die
Frage des Aufenthalts von Nichtstaatsangehörigen im Bundesgebiet einschlägig sind.
Dem Bund steht die Kompetenz zur Regelung der Einwanderung (Art. 73 Abs. 1 Nr. 3
GG), des Aufenthalts- und Niederlassungsrechts der Ausländer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 4
GG) und der Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 6
GG) zu.
Weitere für das Aufenthaltsrecht maßgebliche Kompetenztitel des Bundes sind die
Staatsangehörigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG), der Grenzschutz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5
GG), die öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) und das Arbeitsrecht (Art. 74
Abs. 1 Nr. 2 GG).56
Ursprünglich war das Ausländerrecht fast ausschließlich national geprägt und zählte his-
torisch-systematisch zum besonderen Polizeirecht. In dieser Tradition stehen die bundes-
republikanischen Ausländergesetze von 196557 und 199058 indem sie davon ausgehen,
dass Ausländer, die zum Zwecke einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in die Bundesre-
publik Deutschland einreisen wollen, ein Aufenthaltsrecht nur ausnahmsweise nach Maß-
gabe einer Rechtsverordnung gewährt bekommen können.
Ein wesentlich geänderter Ansatzpunkt wurde dann mit dem am 1.1.2005 in Kraft getre-
tenen Zuwanderungsgesetz59 verfolgt, das das Ausländergesetz außer Kraft setzte. Dessen
wichtigste Bestandteile waren das Aufenthaltsgesetz sowie das Freizügigkeitsgesetz.
Zweck des Zuwanderungsgesetzes war es nunmehr, Gestaltungsspielräume für eine ge-
steuerte Zuwanderung zu eröffnen und zugleich die Integration von Einwanderern zu re-
geln.60
59 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts
und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30.7.2004, BGBl. I, S. 1950.
60 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 28.
61 Zu der darum geführten Diskussion Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung,
2011, S. 6 m.w.N.
62 Änderungsgeschichte des Aufenthaltsgesetzes bei Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht,
3. Auflage 2014, Rdnr. 28 ff.
63 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 33.
bb) Aufenthaltsgesetz
Kernstück des nationalen Rechts zur Regelung von Zuwanderung ist das zum 1. Januar
2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz. Dieses hat das Ausländergesetz abgelöst und
formuliert in seinem § 1 Abs. 1 Satz 1 als Regelungsanspruch, „der Steuerung und Be-
grenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland“ zu dienen.61
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 dient das Gesetz dazu, Zuwanderung unter Berücksichtigung
der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpo-
litischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen und zu gestalten.62
Das Aufenthaltsgesetz regelt für Drittstaatsangehörige, d.h. Nicht-EU-Bürger, die Einrei-
se, den Aufenthalt und die Niederlassung im Bundesgebiet sowie die Erwerbstätigkeit
und Aufenthaltsbeendigung. Zudem ist ein eigenes Kapitel der Integration gewidmet; eine
dazu erlassene Durchführungsverordnung ist die Integrationskursverordnung vom
13.12.2004.63 Das Aufenthaltsgesetz wurde 2007 durch das Gesetz zur Umsetzung auf-
enthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007Familiennachzug zur Ausübung einer Erwerbstätig-
keit berechtigt ist (§ 27 Abs. 5 AufenthG). Die letzte Änderung erfolgte durch Gesetz zur
Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli
201564
und 2013 durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberech-
tigten und ausländischen Arbeitnehmern vom 29. August 201365 geändert, wonach jeder
Inhaber eines Aufenthaltstitels zum
66, etwa im Hinblick auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot, das umfassend verän-
derte Ausweisungsrecht und das Recht der Abschiebungshaft mit der nun bestehenden
Möglichkeit des Ausreisegewahrsams (§ 62 b AufenthG). Darüber hinaus ist die Aufent-
haltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden novelliert wor-
den.67
64 BGBl. I 2007, S. 1970.
65 BGBl. I 2013, S. 3484.
66 BGBl. I 2015, S. 1386.
67 Überblick über die Änderungen bei Berthold Huber, NVwZ 2015, 1178 ff.
68 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 34.
cc) Aufenthaltsverordnung
Die Aufenthaltsverordnung löst verschiedene das Ausländergesetz begleitende Verord-
nungen (DVAuslG, AuslDÜV, AuslGebV) ab und konkretisiert die Bestimmungen des
Aufenthaltsgesetzes zur Einreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet, zur Passpflicht
und zum Erfordernis eines Aufenthaltstitels.68
dd) Asylverfahrensgesetz (jetzt: Asylgesetz)
Das Asylverfahrensgesetz vom 2.9.2008 regelt die Rechtsstellung der Flüchtlinge und das
Asylverfahren. Es enthält für Asylsuchende Sonderregelungen, die nach § 1 Abs. 1 Satz 5
AufenthG dem allgemeinen Ausländerrecht vorgehen. Das AufenthG ist daneben sub-
sidiär anwendbar. Das Asylverfahrensgesetz (jetzt Asylgesetz) kommt zur Anwendung,
wenn ein Ausländer im Bundesgebiet um Schutz vor politischer Verfolgung oder Schutz
vor Abschiebung wegen der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gefahren sucht. Mit
dem Zuwanderungsgesetz wurden Änderungen im Bereich der Sanktionierung einer
mangelnden Kooperation des Ausländers und der Beschleunigung des Asylverfahrens
vorgenommen.69 Neu eingeführt wurde die Verweisung des Antragstellers in das Asylfol-
geverfahren, wenn der Ausländer zwar bei Grenzbehörden, Ausländerbehörden oder den
Polizeien der Länder ein Asylgesuch stellt, danach aber seinen Mitwirkungspflichten nicht
nachkommt. Neu eingeführt wurde auch § 27 a AsylVfG, wonach ein Asylantrag in
Deutschland unzulässig ist, wenn ein anderer Staat auf Grund von Gemeinschaftsrecht
oder Völkerrecht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Damit wurde
das Asyl(verfahrens)gesetz an das Dubliner Übereinkommen angepasst.70
69 Zu den Änderungen im Einzelnen Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage
2014, Rdnr. 40.
70 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 40.
71 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 55.
72 BGBl. 2004 I, S. 2937.
73 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 37.
ee) Freizügigkeitsgesetz/EU
Das FreizügigkeitsG/EU regelt die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen
anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihrer Familienangehörigen (§ 1
FreizügG/EU). Mit dem Gesetz hat der Gesetzgeber wesentliche Vorgaben der Unions-
bürgerrichtlinie vom 29.04.2004 (UBRL) und der Freizügigkeitsvorschriften des Unions-
vertrages in nationales Recht umgesetzt.71
ff) Beschäftigungsverordnung
Das Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft hat am 22.11.2004 eine Verordnung
über die Zulassung von neu einreisenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung
erlassen.72 Mit Zustimmung des Bundesrates trat am 1.7.2013 eine geänderte Fassung in
Kraft, die den Arbeitsmarkt auch für Arbeitskräfte außerhalb der EU mit mittleren Quali-
fikationen öffnet, die eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können. Gering
qualifizierte Drittstaatsangehörige sollen auch weiterhin nur ausnahmsweise zugelassen
werden. Zugleich sollen alle Ausländer mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis un-
eingeschränkt zu jeder Beschäftigung zugelassen werden, sofern sie dieses Recht nicht
schon aufgrund des Aufenthaltsgesetzes besitzen.73
b) Aufenthaltstitel und Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz
aa) Aufenthaltstitel
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG benötigen Ausländer für den Aufenthalt im Bundes-
gebiet einen Aufenthaltstitel74, sofern nicht durch das Recht der Europäischen Union, auf
Grund des Assoziationsabkommens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der
Türkei oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht. Das Aufenthaltsgesetz
kennt fünf Aufenthaltstitel:
74 Zu den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Titels siehe Kay Hailbronner,
Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014 Rdnrn. 242 ff.
75 Dieser Aufenthaltstitel setzt die Blue-Card-Richtlinie 2009/50/EG um.
- Visum ( § 6 AufenthG),
- befristete Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG),
- Blaue Karte (§ 19 a AufenthG)75,
- unbefristete Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG),
- Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9 a AufenthG).
Davon sind zwei Aufenthaltstitel, namentlich Visum und Aufenthaltserlaubnis, sog. mul-
tifunktionale Aufenthaltstitel, die zu mehreren unterschiedlichen vorübergehenden oder
dauernden Aufenthaltszwecken erteilt werden können (z.B. Erwerbstätigkeit, Ausbildung,
Familiennachzug, humanitäre Gründe).
Dabei besteht die Besonderheit des Visums darin, dass es vor der Einreise durch die Aus-
landsvertretungen erteilt wird und zur Einreise in das Bundesgebiet berechtigt. Die Auf-
enthaltserlaubnis wird erst nach der Einreise durch die Ausländerbehörde erteilt. Die
Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG sind im Gegensatz
zum Visum, zur Blauen Karte und zur Aufenthaltserlaubnis zeitlich und räumlich unbe-
schränkt und dürfen nur in den durch das AufenthG ausdrücklich zugelassenen Fällen
mit Nebenbestimmungen versehen werden (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Der Dauer-
aufenthalt-EG ist der Niederlassungserlaubnis gleichgestellt und unterscheidet sich von
dieser lediglich durch eine transnationale Wirkung. Der Inhaber einer Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG kann sich in anderen EU-Staaten unter vereinfachten Bedingungen
zum Zwecke der Erwerbstätigkeit und zum Zwecke des Studiums oder der Ausbildung
niederlassen.76
76 Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Auflage 2014, Rdnr. 236 ff.
77 Verwaltungsabkommen zwischen dem Bundesministerium des Innern und der Bayerischen
Staatsregierung über die Wahrnehmung von Aufgaben des grenzpolizeilichen Einzeldienstes in
Bayern vom 21. April 2008 (GVBl S. 149, BayRS 2012-3-5-I).
bb) Zuständigkeiten
Die Zuständigkeit für die Vollziehung des Aufenthaltsgesetzes richten sich nach dessen §
71. Danach sind für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen im
Inland die Ausländerbehörden zuständig (§ 71 Abs. 1 AufenthG).
Die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs gemäß § 2
BPolG beauftragte Bundespolizei ist gem. § 71 Abs. 3 AufenthG insbesondere zuständig
für
- die Zurückweisung und die Zurückschiebung an der Grenze, einschließlich der
Überstellung von Drittstaatsangehörigen auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung,
wenn der Ausländer von der Grenzbehörde im grenznahen Raum in unmittelbarem
zeitlichen Zusammenhang mit einer unerlaubten Einreise angetroffen wird,
- Abschiebungen an der Grenze, sofern der Ausländer bei oder nach der unerlaubten
Einreise über eine Grenze im Sinne des Artikels 2 Nummer 1 des Schengener Grenz-
kodex aufgegriffen wird,
- Abschiebungen an der Grenze, sofern der Ausländer bereits unerlaubt eingereist ist,
sich danach weiter fortbewegt hat und in einem anderen Grenzraum oder auf einem
als Grenzübergangsstelle zugelassenen oder nicht zugelassenen Flughafen, Flug- oder
Landeplatz oder See- oder Binnenhafen aufgegriffen wird.
In Bayern ist in Einzelfällen auch aufgrund eines Verwaltungsabkommens die Landespo-
lizei zuständig (Flughäfen Nürnberg und Memmingen)77. Die Sicherung durch die Lan-
despolizei erfolgt weisungsgebunden gegenüber der weisungsbefugten Bundespolizei.78
78 § 3 des Verwaltungsabkommens vom 21. April 2008, a.a.O.
79 Nr. 12.3.3 VAH-AufenthG.
Für die erforderlichen Maßnahmen der Identitätsfeststellung u. ä. (§§ 48, 48a und 49 Abs.
2 bis 9 AufenthG) sind gem. § 71 Abs. 4 AufenthG die Ausländerbehörden, die Bundes-
polizei und, soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 71 Absatz 5 AufenthG erfor-
derlich ist, die Polizeien der Länder zuständig. Die Polizei des betroffenen Landes ist –
neben der Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich der Ausländer widerrechtlich aufhält12 Abs. 3 AufenthG und die Durchführung der Abschiebung und, soweit es zur Vorbe-
reitung und Sicherung dieser Maßnahmen erforderlich ist auch für die Festnahme und
Beantragung der Haft zuständig.
79
- danach auch für die Zurückschiebung sowie die Durchsetzung der Verlassenspflicht des
§
c) Grenzschutzregime
Die Bundesrepublik Deutschland hat die Aufgabe der Grenzsicherung der Bundespolizei
übertragen. Gemäß § 2 BPolG obliegt der Bundespolizei „der grenzpolizeiliche Schutz
des Bundesgebietes (Grenzschutz), soweit nicht ein Land im Einvernehmen mit dem
Bund Aufgaben des grenzpolizeilichen Einzeldienstes mit eigenen Kräften wahrnimmt.
Der Grenzschutz umfasst nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 BPolG die polizeiliche Überwachung der
Grenzen sowie nach Nr. 2 a die polizeiliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Ver-
kehrs einschließlich der Überprüfung der Grenzübertrittspapiere und der Berechtigung
zum Grenzübertritt.
d) Zwischenergebnis
Sowohl die grundgesetzliche Verteilung der Gesetzgebungskompetenz, als auch der hohe
Verschränkungsgrad des Vollzuges belegen ein besonderes sachliches Näheverhältnis von
Bund und Ländern, die auf diesem Gebiet in exzeptioneller Weise aufeinander angewie-
sen sind. Das gilt vor allem für die Länder, weil der Bund die Gesetzgebungskompetenz
und für die Grenzsicherung eine eigene Verwaltungskompetenz besitzt. Aber auch der
Bund ist auf gesetzmäßiges und bundestreues Verhalten der Länder, etwa bei der Unter-
bringung von Asylbewerbern oder bei der Abschiebung, angewiesen.
2. Europäischer Regelungsrahmen
a) Entwicklung
Eine erste wichtige Weichenstellung der Europäisierung des Migrationsrechts war die Un-
terscheidung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen. Die migrationsrechtli-
che Behandlung von Unionsbürgern wurde kompetentiell der Union übertragen und in-
sofern der Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten um diese Bezugsgruppe beschränkt.80
Die zweite Phase wurde eingeleitet mit dem Amsterdamer Vertrag, in dem auch Dritt-
staatsangehörige in den migrationsrechtlichen Kompetenzbereich der Union einbezogen
wurden. Für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wurde eine gemeinsa-
me Asyl-, Einwanderungs- und Grenzkontrollpolitik projektiert (Art. 61 EG lit. a und b
EG, nunmehr Art. 67 Abs. 2 AEUV).81
80 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 52.
81 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 56.
82 Informationen der Vereinten Nationen (
http://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html, zuletzt abgerufen am 5. November 2015).
Dabei konnte die Politik der Gemeinschaft, seit 1992 der Union, gerade im Hinblick auf
die Flüchtlingsfrage an ältere völkerrechtliche Traditionen anknüpfen. Schon der Völker-
bund als Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen hat Anfang des 20. Jahrhunderts
mit der Entwicklung einer international gültigen Rechtsgrundlage zum Schutz von
Flüchtlingen begonnen. Das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ – wie
der offizielle Titel der Genfer Flüchtlingskonvention lautet – wurde am 28. Juli 1951 von
den Vereinten Nationen verabschiedet. Die Konvention legt fest, wer ein Flüchtling ist,
welchen rechtlichen Schutz, welche Hilfe und welche sozialen Rechte sie oder er von den
Unterzeichnerstaaten erhalten sollte.82 Ursprünglich in ihrer Zielsetzung auf europäische
Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert, erweiterte das Protokoll von 1967
sowohl zeitlich als auch geografisch den Wirkungsbereich der Konvention, um der
Flüchtlingslage weltweit gerecht werden zu können. Die Flüchtlingskonvention umspannt
damit gewissermaßen den völkerrechtlichen Rahmen der Problematik.
Auf europäischer Ebene formuliert Art. 3 Abs. 2 EUV: „Die Union bietet ihren Bürge-
rinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Bin-
nengrenzen, in dem - in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kon-
trollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Be-
kämpfung der Kriminalität - der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“
b) Teilübertragung und Koordinierung des staatlichen Grenzregimes
Damit formuliert der Vertrag ein ehrgeiziges Ziel, das Vergemeinschaftung oder zumin-
dest ein erhebliches Maß an Koordination hinsichtlich einer elementaren Staatsfunktion
voraussetzt, sind doch - im Sinne der Drei-Elementen-Lehre Jellineks - durch diese Ziel-
setzung zwei fundamentale Bereiche tangiert: das Staatsvolk und das Staatsgebiet. Die
Staatsgrenze und die praktische Macht zu ihrer Kontrolle sind, so verstanden, staatskon-
stituierend.83 Es herrscht zudem ein völkerrechtlicher Grundsatz, zumindest ein Com-
ment selbstverständlicher Funktionsbedingungen, dass der Einzelne gegenüber einem
Staat keinen rechtlichen Anspruch auf Einreise in ein für ihn fremdes Staatsgebiet hat.84
Das Bundesverfassungsgericht drückt dies so aus:
83 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1900, S. 394 ff.
84 Vgl. statt vieler Kay Hailbronner, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, S. 242, Rn.
281.
85 BVerfGE 94, 166 (198 f.).
„Die Staatsgrenze ist als Hindernis der freien Bewegung nach der allgemeinen
Rechtsordnung vorgegeben. Jeder Staat ist berechtigt, den freien Zutritt zu seinem
Gebiet zu begrenzen und für Ausländer die Kriterien festzulegen, die zum Zutritt auf
das Staatsgebiet berechtigen.“85
Der Kern der betroffenen Zuständigkeitsbereiche obliegt daher nach wie vor den Mit-
gliedstaaten. Um dennoch die Idee eines Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts
ohne Binnengrenzen auf europäischer Ebene zu verfolgen, formuliert das europäische
Recht zahlreiche Maßnahmen auf dem Gebiet der Außengrenzkontrollen, des Asyls, der
Einwanderung und der Kriminalitätsbekämpfung.
c) Das europäische Grenzregime
aa) Das Schengen-Abkommen
Den Beginn solcher Überlegungen stellt das sogenannte Saarbrücker Abkommen zum
stufenweisen Abbau der Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Frankreich im Jahr
1984 dar, der erste Schritt für einen Raum ohne Binnengrenzen.86 Die kontrovers geführ-
te Diskussion über die Bedeutung der Freizügigkeit und deren inhaltliche Ausgestaltung –
es herrschte keine Einigkeit darüber, ob zwischen EG-Bürgern und Drittstaatsangehöri-
gen zu unterscheiden sei – gipfelte in einem Abkommen im Jahr 1985 (Schengen I) zur
Errichtung eines Raums ohne Binnengrenzen, zunächst getragen durch Frankreich,
Deutschland, Belgien, Luxemburg und der Niederlande. 1990 wurden im sog. Schengener
Durchführungsübereinkommen (SDÜ – Schengen II), einem intergouvernementalen Re-
gierungsübereinkommen, weitere Ausführungsbestimmungen vereinbart.87 Kern dieser
Regelungen waren vereinheitlichte Vorschriften für die Einreise und den kurzfristigen
Aufenthalt von Ausländern im Schengen-Raum, Zuständigkeitszuweisungen für Asylan-
träge, Maßnahmen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität sowie die Zu-
sammenarbeit von Polizei und Justiz. Diese Regelungsbereiche und der Schengen-
Besitzstand wurden durch das Schengen-Protokoll zum Amsterdamer Vertrag zum 1. Mai
1999 auch in den rechtlichen Rahmen der Europäischen Union einbezogen. Seit dem Lis-
sabon-Vertrag ist die europarechtliche Regelungskompetenz bekräftigt und thematisch
eng verflochten mit dem Bestreben einheitlicher Standards der Migrationspolitik, die zu-
vor auf unterschiedliche Säulen der EU verteilt waren.88
86 Daniela Heid, S. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) in: Dauses (Hrsg.),
Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Stand: 29. EL September 2011), Rdnr. 84.
87 Vgl. zum Schengener Abkommen Jan Bergmann in: ders., Handlexikon der Europäischen Uni-
on, 5. Aufl. 2015.
88 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 140 ff.
Artikel 77 AEUV sieht vor, dass die Union eine Politik entwickelt, mit der sichergestellt
werden soll, dass Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, beim Überschrei-
ten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden und dafür die Personenkontrolle und die
wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen stattfindet. Um dieses
Ziel zu erreichen, soll schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengren-
zen eingeführt werden. Von einem solchen integrierten Grenzschutzsystem ist die Union
noch entfernt. Zur Zeit basiert das Schengenregularium auf dem Vertrauen in die wirk-
same nationale Grenzsicherung von Außengrenzen. Wenn dieses Vertrauen in systemisch
bedeutsamer Weise etwa im Fall von Griechenland enttäuscht wird, verliert das gesamte
System seine praktische Voraussetzung und seinen innere Ausgewogenheit.
Eine systematische Ausweiskontrolle an den Binnengrenzen ist seit 1999 europarechtlich
untersagt, eine Kontrolle ist lediglich stichprobenartig und im Umkreis von 30 km an den
Grenzen möglich. Wann systematische Kontrollen und wann nur stichprobenartige Kon-
trollen vorliegen, bestimmt der sog. Schengen-Grenzkodex in Form einer europäischen
Verordnung.89 Innerhalb des Schengen-Raums sind Personenkontrollen weggefallen, eine
Kontrolle nach einheitlichem Standard hat sich infolgedessen an die Außengrenzen ver-
schoben. Dies ist notwendig, denn durch das Schengen-Abkommen und den Wegfall der
Binnengrenzkontrollen verlieren die Mitgliedstaaten die Möglichkeit von Ein- und Aus-
reisebeschränkungen und damit zentrale sicherheitspolitische Instrumente.90
89 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März
2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen
(Schengener Grenzkodex), zuletzt geändert durch VO (EU) Nr. 1051/2013 vom 22. Oktober
2013.
90 Matthias Ruffert, Die unionsverfassungsrechtlichen Grundlagen des Raums der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts, in: Pache (Hrsg.), Die Europäische Union – Ein Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts, 2005, S. 25.
Der Schengener Grenzkodex enthält allerdings auch Ausnahmetatbestände, sodass die
Binnengrenzkontrollen temporär wieder eingeführt und Ausweiskontrollen bei Grenz-
übertritten stattfinden können. Artikel 23 des Grenzkodex erlaubt im Falle einer schwer-
wiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit die Wieder-
einführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen. Dies kann nach einem geregel-
ten Verfahren bei vorhersehbaren Ereignissen nach Art. 24 Grenzkodex oder für Fälle,
die ein sofortiges Handeln erfordern, auch ausnahmsweise unverzüglich für einen Zeit-
raum von 30 Tagen geschehen (Art. 25 Grenzkodex). Die Wiedereinführung darf aber
nicht über das Maß hinausgehen, das unbedingt erforderlich ist, um gegen die schwerwie-
gende Bedrohung vorzugehen (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 Grenzkodex). Überschreiten die
notwendigen Grenzkontrollen als vorübergehende Maßnahme die 30-Tages-Frist, so
kann der Mitgliedstaat ebenfalls zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und in-
neren Sicherheit und unter Berücksichtigung etwaiger neuer Aspekte die Grenzkontrollen
für jeweils höchstens 30 Tage verlängern.
Im Jahr 2013 haben die Länder des Schengen-Raums eine weitere Ausnahme beschlos-
sen.91 Auslöser war unter anderem die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge aus Nordafrika
während des Arabischen Frühlings. Danach können nationale Grenzen bis zu einer Dau-
er von höchstens zwei Jahren wieder kontrolliert werden (Art. 23 Abs. 4 der VO). Vo-
raussetzung dafür ist aber, dass das Funktionieren des Schengen-Raums an sich in Gefahr
ist, weil außergewöhnliche Umstände vorliegen und die Schengen-Außengrenze durch ei-
nes der Mitgliedsländer trotz EU-Unterstützung nicht wirksam geschützt wird. Gedacht
ist dieser Mechanismus nur als letztes Mittel. Dabei dürfen die einzelnen Länder (im Ge-
gensatz zu den kurzfristigen Maßnahmen) keinesfalls im Alleingang tätig werden. Der Rat
der Europäischen Union muss die Wiedereinführung der Kontrollen für einen bestimm-
ten Zeitraum empfehlen. Dies geschieht auf Vorschlag der EU-Kommission.
91 Siehe die VO (EU) Nr. 1051/2013 vom 22. Oktober 2013 (zugleich aktuellster Stand des
Schengener Grenzkodex).
92 Zur „Agentur als Organisationsform“ siehe näher Matthias Lehnert, Frontex und operative
Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen. Verwaltungskooperation – materielle Rechts-
grundlagen – institutionelle Kontrolle, 2014, S. 41 ff.
bb) Frontex
Schon das SDÜ griff den Gedanken der Grenzkontrollen als zentrale sicherheitspolitische
Instrumente auf und formulierte Standards zur weiteren Ausgestaltung. Die Art. 3 ff.
SDÜ verfolgten das Ziel verbesserter Grenzkontrollen, abgestimmter Ein- und Ausreise-
verfahren sowie einer vereinheitlichten Visa-Regelung. Um den Kontrollstandard an den
europäischen Außengrenzen gewährleisten zu können, wurde 2005 die Agentur der
Kommission Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen) mit Sitz in Warschau gegründet. Es handelt sich bei der Grenzschutza-
gentur Frontex um eine unabhängige Gemeinschaftsagentur der Mitgliedstaaten mit eige-
ner Rechtspersönlichkeit.92 Für Einsätze setzt die Agentur auf das sog. Rapid Border In-
tervention Teams-Konzept,93 das heißt in Ausnahmesituationen und dringenden Fällen
werden Einheiten aus nationalen Experten für einen begrenzten Zeitraum gebildet und
eingesetzt. Rechtsgrundlage für die Schaffung eines einheitlichen Kontroll- und Überwa-
chungsniveaus ist Art. 77 I lit. c) und II lit. d) AEUV.
93 Matthias Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen.
Verwaltungskooperation – materielle Rechtsgrundlagen – institutionelle Kontrolle, 2014, S. 88 ff.
sowie S. 113.
94 Siehe dazu ausführlich Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationsverantwortung, S. 140 ff.
d) Aufenthalts- und Asylregime
aa) Qualifizierungs-Richtlinie
Die Migrationspolitik der EU gründet auf dem Gedanken der Solidarität der Mitgliedstaa-
ten untereinander. Für die hier zu behandelnde Problematik ist vor allem Art. 80 AEUV
von Interesse, der bestimmt:
„Für die unter dieses Kapitel fallende Politik der Union und ihre Umsetzung gilt der
Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten un-
ter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Die aufgrund dieses
Kapitels erlassenen Rechtsakte der Union enthalten, immer wenn dies erforderlich ist,
entsprechende Maßnahmen für die Anwendung dieses Grundsatzes.“
Art. 78 AEUV und Art. 79 AEUV weisen der EU die Kompetenz zur Schaffung einheit-
licher Asyl- und Einwanderungsregelungen zu.94 Wem die Anerkennung als Drittstaatsan-
gehörigem bzw. ein Anspruch auf internationalen Schutz zukommt bestimmt die soge-
nannte Qualifizierungs-Richtlinie der EU. Zudem regelt sie die Frage eines einheitlichen
Flüchtlingsstatus. Nach Art. 2 d) der Richtlinie ist Flüchtling ein Drittstaatsangehöriger,
der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationali-
tät, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und den Schutz
dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder will. Die europäische Richtlinie
übernimmt den Begriff der Genfer Flüchtlingskonvention, erweitert ihn jedoch um die
Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge. Der wichtigste Anhaltspunkt auf europäischer
Rechtsebene, wer für diesen Flüchtling zuständig ist und also über das Asyl- bzw. Schutz-
gesuch entscheidet, ist die sogenannte Dublin III-Verordnung.
e) Die Dublin III-Verordnung
Das Schengen-Abkommen sah Zuständigkeitsregeln für die Durchführung von Asylver-
fahren vor, die inzwischen ersetzt sind durch die Dublin-III-Verordnung zur Festlegung
der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines
von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten An-
trags auf internationalen Schutz zuständig ist.95
95 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni
2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die
Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestell-
ten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.
96 Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin-III-VO.
Regelungsgegenstand ist im Kern die Frage welcher Staat über das Asylgesuch von Dritt-
staatsangehörigen im Sinne des Art. 2a) der Verordnung entscheidet. Unabhängig der
Sonderfälle von Minderjährigen, Familienangehörigen, die Begünstigte internationalen
Schutzes sind oder internationalen Schutz beantragt haben (Art. 8-10 der Verordnung),
ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig,
dessen Land-, See- oder Luftgrenze der aus einem Drittstaat kommende Antragsteller
überschritten hat (Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO).
Ein anderer Mitgliedstaat kann jedoch für zuständig bestimmt werden, wenn „es wesent-
liche Gründe für die Annahme gibt, das das Asylverfahren und die Aufnahmebedingun-
gen für den Antragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat systemische
Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden
Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen (…)“.96
Die Verordnung genießt im Sinne des Art. 288 AEUV allgemeine Geltung, sie ist in allen
ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Wenn allerdings Mit-
gliedstaaten sich nicht an diese verbindlichen Regelungen halten und ungeachtet der Dub-
liner Zuständigkeitszuweisungen Asyl- und Schutzsuchende unter Missachtung der
Schengen-Regelungen und der EU-Eurodacverordnung (EURODAC-VO)97 unkontrol-
liert passieren lassen, wird die verbindliche Geltungskraft des europäischen Gesetzes er-
schüttert. Die EU erhebt den Anspruch ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts“ (vgl. Titel V; Art. 67 ff. AEUV) zu sein, sie verpflichtet sich rechtsstaatlichen
Grundsätzen (vgl. z.B. Art. 2 EUV), die zwar dem Raum der Mitgliedstaaten entstammen;
Begriff und Inhalte der Rechtsstaatlichkeit sind aber auf die Union übertragbar.98 Das Zu-
sammenspiel von Staat, Staatsgrenzen, Grenzschutz und Migration gebietet die Differen-
zierung zwischen legaler und illegaler Migration, die ein rechtsstaatlicher Grenzschutz an-
gehalten ist durchzusetzen, was jedoch nur mit einem wirksamen Vollzug des Regelwer-
kes gelingt.99
97 Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von
„Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des
Dubliner Übereinkommens.
98 Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 2 EUV,
Rdnr. 25 f.
99 Vgl. Anna Mrozek, ZAR 2014, 393 (394); vgl. zur Verfassungswidrigkeit bei Verletzung der
Wehrgerechtigkeit nach deutschem Recht bei dauerhafter Untätigkeit des Gesetzgebers BVerwG,
NJW 2005, 1525 (1528); ferner zu den Voraussetzungen der Verfassungswidrigkeit bei Vollzugs-
mängeln von Steuernormen BVerfGE 110, 94 (112 f.).
f) Weitere Richtlinien
Zu dem einschlägigen Regelwerk zählen aber auch die sogenannte Aufnahme-Richtlinie
und die Asylverfahrens-Richtlinie, beide aus dem Jahr 2013. Die Asylverfahrens-Richtlinie
bestimmt das gemeinsame mitgliedstaatliche Verfahren für die Zuerkennung und Aber-
kennung des internationalen Schutzes. Die Aufnahme-Richtlinie legt Normen für die
Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, fest. Beide Richtlinien
gelten auch für Bereiche von Transitzonen.
Das Unionsrecht hat bei der Migration einen hybriden Entwicklungsstand erreicht, der
zwischen gemeinsamer Kontrolle über die Außengrenzen einerseits und beibehaltender
nationaler Verantwortung andererseits verharrt. Der Migrationskrise ist dieser Rahmen
nicht gewachsen und bedroht den Zusammenhalt der Union und die Balance von Mit-
gliedstaaten und Union. Die rechtliche Gestaltung der Migrationspolitik erfolgte seit dem
Amsterdamer Vertrag in den normalen supranationalen Handlungsformen, allerdings
noch nicht im Standardverfahren der Rechtssetzung gemäß dem Mitentscheidungsverfah-
ren. Dieser Schritt erfolgte erst fünf Jahre später, wobei es für den Bereich der regulären
Einwanderung bei der Einstimmigkeit im Rat blieb (Art. 63 Nr. 3 lit. a und Nr. 4 EG).
Der Lissabonner Vertrag hat dann auch diesen Teilbereich in das ordentliche Gesetzge-
bungsverfahren überführt (Art. 79 Abs. 2 AEUV).100 Der nach nunmehr einem Jahrzehnt
der Gesetzgebung erreichte Stand der Europäisierung des Migrationsrechts ist Gegen-
stand einer breiten und kontroversen Diskussion.101 Das am 11.12.2009 vom Europäi-
schen Rat beschlossene sog. Stockholmer Programm, mit dem entsprechende Gesetzge-
bungsprojekte für den Zeitraum von 2010 bis 2014 koordiniert werden sollen, zeigt, dass
hier noch sehr im Vagen operiert wird.102 Dem entspricht es, dass es für den europäi-
schen Migrationsverwaltungsraum anders als beim Binnenmarkt mit transnationalen Wir-
kungen in Form von Anerkennungspflichten (Cassis-de-Dijon-Prinzip) kein Assimilie-
rungsprinzip bzw. Verfassungsprinzip der gegenseitigen Anerkennung gibt.103 Ein Prinzip
der gegenseitigen Anerkennungspflicht ist im europäischen Migrationsrecht lediglich poli-
tisches Leitmotiv für den europäischen Gesetzgeber.
100 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 57 f.
101 Jürgen Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, 2011, S. 59 mit entsprechenden
Nachweisen bei Fn. 226.
102 Rats-Dok. 17024/09.
103 Jürgen Bast, Der Staat 2007, 1 (15 f.).
g) Massenzustrom-Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001
Das europäische Primärrecht sieht mit Art. 78 AEUV die Kompetenz der Union vor, ei-
ne gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz
zu entwickeln, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt,
ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-
Zurückweisung gewährleistet werden soll. Dabei wurde die heute bedrängende Situation
eines „plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ (Art. 78 Abs. 3
AEUV) angesichts des Balkankrieges bereits vorausgesehen und 2001 auch sekundär-
rechtlich mit einer entsprechenden Richtlinie reagiert, die Mindestnormen für die Gewäh-
rung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen sowie
Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen auf die Mit-
gliedstaaten, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme
verbunden sind, vorsieht. Dabei ist sowohl dem Primärrecht als auch dem Sekundärrecht
der Union das Bestreben zu entnehmen eine praktische Konkordanz zwischen völker-
rechtlich begründeter Schutzverantwortung der Union im Sinne der Genfer Flüchtlings-
konvention einerseits und dem Funktionsinteresse der einzelnen Mitgliedstaaten sowie
der solidarischen und gerechten Verteilung der Lasten untereinander andererseits herbei-
zuführen. Angewandt auf die heutigen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder
Afghanistan könnten sie nach Maßgabe dieser Richtlinie vorübergehenden Schutz erhalten,
insbesondere dann wenn die Gefahr besteht, dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht
ohne Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die betroffenen
Personen oder andere Schutz suchende Person auffangen kann.104 Dieser vorübergehende
Schutz endet grundsätzlich nach einem Jahr.105
104 Art. 2 lit. a) Rl. 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 (ABl. EG L 212/3).
105 Art. 4 Abs. 1, siehe aber auch Art. 6 Abs. 2 Rl. 2001/55/EG.
Das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen wird durch einen Beschluss des
Rates festgestellt, der mit qualifizierter Mehrheit ergeht (Art. 5 Richtlinie 2001/55/EG).
Aufgrund des Beschlusses des Rates wird in allen Mitgliedstaaten der vorübergehende
Schutz gemäß dieser Richtlinie zugunsten der Vertriebenen, die Gegenstand des Be-
schlusses sind, eingeführt. Die Mitgliedstaaten können den vorübergehenden Schutz auf
andere Gruppen von Vertriebenen ausweiten, sofern sie aus den gleichen Gründen ver-
trieben wurden und aus demselben Herkunftsland oder derselben Herkunftsregion kom-
men. Hier besteht eine umgehende Unterrichtungspflicht gegenüber Rat und Kommissi-
on und es besteht kein Anspruch auf die Solidarität, die von Artt. 24, 25 und 26 der
Richtlinie vorgesehen ist. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Personen, die vorüberge-
henden Schutz genießen, angemessen unterzubringen oder ihnen Mittel für eine Unter-
kunft zu geben (Art. 13 Rl. 2001/55/EG). Minderjährigen ist Zugang zum Bildungssys-
tem zu gewähren (Art. 14 Rl. 2001/55/EG). Die Richtlinie über den Massenzustrom von
Vertriebenen geht davon aus, dass jeder Mitgliedstaat nur bestimmte Aufnahmekapazitä-
ten besitzt, unterstellt zudem die Notwendigkeit einer fairen Lastenverteilung und Zu-
sammenarbeit unter den Mitgliedstaaten und enthält Regelungen über die Rückkehr von
Personen in ihre Herkunftsstaaten, die vorübergehenden Schutz genießen. Damit zeigt
die Richtlinie die grundsätzliche Entscheidung eines Ausgleichs zwischen humanitärer
Schutzverpflichtung in einer akuten grenzüberschreitenden Notlage und den Stabilitäts-
und Leistungserfordernissen der mitgliedstaatlichen Verfassungsräume. Diese gebotene
Auslegung des Sekundärrechts verstößt nicht gegen das Primärrecht, insbesondere nicht
gegen Art. 18 EU-GRCharta, die kein subjektives Recht gegenüber der EU oder einem
Mitgliedstaat auf Einräumung des Asylstatus vermittelt.
h) Genfer Flüchtlingskonvention und EMRK
Wichtigster Baustein der Migrationspolitik aus völkerrechtlicher Perspektive ist die Gen-
fer Flüchtlingskonvention. Deren Bestimmungen sprechen (in Anlehnung an obige Aus-
führungen) nicht gegen den Vollzug der europäischen oder deutschen Gesetze. Die Kon-
vention vermittelt keinen Anspruch auf Einreise, und gewiss nicht auf Einreise von einem
sicheren Konventionsstaat in einen anderen. Art. 31 der Konvention erlaubt den Staaten
den (sich unrechtmäßig im Land befindlichen) Flüchtlingen beim Wechsel des Aufent-
haltsortes notwendige Beschränkungen aufzuerlegen. Art. 32 erlaubt eine Ausweisung
von (sich rechtmäßig im Land befindlichen) Flüchtlingen aus Gründen der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung innerhalb eines geregelten Verfahrens. Ein Verbot der Auswei-
sung (als ausländerrechtlicher Verwaltungsakt nach dem AufenthG, der die Rechtmäßig-
keit eines Aufenthalts beendet) und Zurückweisung (Realakt/Zwangsmittel an der Gren-
ze, weil die Einreisevoraussetzungen fehlen) nach Art. 33 der Konvention gilt, wenn der
Flüchtling in ein Gebiet zurückgeschickt würde, in dem sein Leben oder seine Freiheit
bedroht wäre (Refoulementverbot). Die Regelungen der Zuständigkeitsverteilung der
Dublin-Verordnung könnten insoweit als notwendige Beschränkung gesehen werden. In-
nerhalb der EU droht keinem Flüchtling und keinen subsidiär Schutzberechtigten eine
Verfolgungsgefahr oder Bedrohungslage. Auch die Europäische Menschenrechtskonven-
tion begründet kein Menschenrecht auf ungehinderte Einreise in einen Konventionsstaat
und sieht keine unbegrenzte Pflicht zur Aufnahme von Vertriebenen oder heimatlos ge-
wordenen Menschen vor.
IV. Systemische Defizite und Integrationsverantwortung des Bundes
1. Disparitäten und systemische Mängel
Die Öffnung der europäischen Binnengrenzen setzt eine wirksame Kontrolle der europä-
ischen Außengrenzen voraus. Die Grenzen auch am Rande des Schengen-Raumes unter-
liegen allerdings weiterhin der völkerrechtlichen Kompetenz der Nationalstaaten, wäh-
rend die „Regulierung von Migration“ „zu einem europäischen Interesse“ geworden ist.106
Diese Divergenz der Zuständigkeiten funktioniert als System geteilter Verantwortung nur
unter günstigen Bedingungen wechselseitiger Handlungsfähigkeit und wechselseitigen
Vertrauens. Das entstandene, im Grunde noch experimentelle europäische System beruht
insoweit auf optimistischen Grundannahmen, die seit einigen Jahren durch den Staa-
tenzerfall an der Peripherie der Union sowie allgemein durch die Zunahme von Wande-
rungsbewegungen erschüttert sind. Das Schengen- und Dublinsystem ist mit dem aktuel-
len und in dieser Dimension unvorhergesehenen Massenzustrom ernsthaft überfordert.
106 Matthias Lehnert, Frontex und operative Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen.
Verwaltungskooperation – materiellen Rechtsgrundlagen – institutionelle Kontrolle, 2013, S. 27.
Nach dem europäischen Recht und im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention
können sich weder Asylsuchende noch Flüchtlinge im völkerrechtlichen Sinne oder sub-
sidiär Schutzberechtigte ein Zufluchtsland ihrer Wahl aussuchen. Innerhalb der EU ent-
scheidet grundsätzlich das Unionsrecht darüber, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des
Asylantrags zuständig ist und in welchem Staat die Antragsteller sich sodann aufhalten
dürfen. Diese Ausgestaltung führt dazu, dass Mitgliedstaaten, die eine EU-Außengrenze
unterhalten, in einer besonderen Verantwortung stehen. Sie haben einerseits die Außen-
grenze zu sichern, die Einreise zu kontrollieren und mögliche Asylverfahren zu bearbei-
ten und andererseits die Antragsteller bis dahin unterzubringen.
Dieses System begünstigt an sich Staaten, die wie die Bundesrepublik Deutschland, von
sicheren Drittstaaten vollständig umgeben sind. Sowohl nach europäischem Recht als
auch nach Verfassungsrecht können in Deutschland nach einer Einreise auf dem Land-
weg unmittelbar keine Asylanträge erfolgreich sein. Art. 16 a Abs. 2 GG bestimmt aus-
drücklich:
„Auf Absatz 1 (Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, Anm. d. Verf.) kann sich nicht
berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus ei-
nem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“
Anders als die dargestellte Rechtslage vermuten lässt, hat sich die Wirklichkeit bereits vor
der Zuspitzung der Migrationskrise im Sommer 2015 entwickelt. Während man ange-
sichts der Rechtslage erwarten würde, dass die Hauptlast der Asylanträge in den Mitglied-
staaten der EU anfallen, die im Mittelmeerraum eine Außengrenze unterhalten (wie etwa
Griechenland, Italien oder Spanien), so wurden tatsächlich im Jahr 2013 in Griechenland
8.225 Anträge, in Italien 27.130 Anträge und in Spanien 4.500 Anträge gestellt. Im glei-
chen Zeitraum wurden in Deutschland 127.000 Antragsteller gezählt.107 Die mitunter be-
klagte Ungerechtigkeit des europäischen Asylsystems zulasten der mediterranen Mitglied-
staaten mag auf dem Papier bestehen, sie entspricht aber nicht der Realität. Im Jahr 2014
– also bereits angesichts einer Zunahme der Flüchtlingszahlen aber noch vor der großen
Welle 2015 - lag Schweden mit 8,4 Asylbewerber pro 1000 Einwohner in der Belastung
an der Spitze, gefolgt von Ungarn mit 4,3 und Österreich mit 3,3 pro 1000 Einwohner.
Unter den mediterranen Staaten befinden sich nur die Kleinstaaten Malta und Zypern mit
3,2 und 2,0 Asylbewerber pro 1000 Einwohner in der Spitzengruppe. Deutschland und
Dänemark nahmen 2014 mit 2,5 und 2,6 Asylbewerber pro 1000 Einwohner ebenfalls in
großem Umfang Asylbewerber auf. Italien, Frankreich und Griechenland nahmen dage-
gen pro Kopf weniger als die Hälfte auf, nämlich zwischen 0,9 und 1,1 Asylbewerber pro
1000 Einwohner. Ein Land wie Spanien nahm sogar nur 0,1 Asylbewerber pro 1000 Ein-
wohner im Jahr 2014 auf108, das Land sicherte aber auch die Außengrenze wirksamer als
andere.
107 Harald Dörig, Botschaftsentscheid für Flüchtlinge statt illegaler Schleusung, jM 2005,196 (199);
auch in Relation zu Bevölkerungszahl nahm Deutschland deutlich mehr Asylbewerber auf als die
meisten mediterranen Länder.
108 Katrin Hirseland, Flucht und Asyl: Aktuelle Zahlen und Entwicklungen, APuZ 25/2015, 17
(20, Abbildung 1).
109 Bereits im September 2014 fand ein deutsch-italienisches Innenministertreffen in Berlin statt,
wobei es auch um den Vorwurf ging, italienische Behörden würden problemlos Migranten weiter
In vielen Fällen wurden bereits vor der Zuspitzung der Krise im Sommer 2015 auch in
stabilen Mitgliedstaaten wie Italien ankommende Einreisewillige ohne die vorgeschriebe-
ne Registrierung weitergeleitet,109 so dass – in Deutschland angekommen – der erstauf-
in die nördlichen Staaten der Europäischen Union reisen lassen. Einzelne italienische Behörden
sollen sogar 500 Euro gezahlt haben, damit sich die Flüchtlinge in einen Zug gen Norden setzen.
Siehe dazu „DIE WELT“, vom 2.9. 2014 („Wie Italien Flüchtlinge nach Deutschland umleitet“).
Im April 2015 wird wie folgt berichtet: „Über seine Ankunft in Italien macht der Syrer bemer-
kenswerte Aussagen. ‚Es gab keine Küstenwache. Kein einziger Polizist hat uns nach unseren Pa-
pieren gefragt. Niemand hat uns registriert, unsere Fingerabdrücke genommen, Fotos von uns ge-
schossen oder gefragt, wer wir sind‘, so Mohammed. Die Flüchtlinge gelangen nahezu problemlos
auf italienischem Boden und treten den Weg Richtung Nordeuropa an, wo sie sich finanzielle Un-
terstützung und eine Unterkunft erhoffen. Nach Angaben von Mohammed wollen die meisten
Flüchtlinge nach Schweden, Deutschland oder in die Niederlande.“ (Deutsche Wirtschafts-
Nachrichten vom 14.4.2015, „Italien schickt Syrien-Flüchtlinge ohne Kontrolle nach Nord-
Europa“).
110 EuGH, Urteil vom 21.12.2011, verb. Rs. C-411/10 u. C-493/10 (N.S. ua.); BVerfGE 128, 224
ff.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR
1795/14.
111 Siehe dazu auch den Hinweis des BVerfG, „dass mit der Überforderung des Asylsystems eines
Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundene transnationale Probleme vornehmlich auf der
Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind“, BVerfGE 128, 224 (226).
112 VG München, Urteil vom 26.9.2014 – M 24 K 14.50320.
113 EuGH Urteil vom 10.12.2013 – C-394/12 – NVwZ 2014, 208.
nehmende Staat nicht mehr festgestellt werden kann und deshalb eine Rücküberstellung
ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass in einzelnen Mitgliedstaaten wie Griechenland sog.
systemische Mängel des Asylsystems vorliegen, die es Deutschland aus Rechtsgründen
verbieten, dorthin zurück zu überstellen.110
Das Bundesministerium des Inneren hat vor diesem Hintergrund systemischer Mängel
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angewiesen, generell von Überstellungen
Asylsuchender nach Griechenland abzusehen und die Schutzgesuche im nationalen Ver-
fahren zu prüfen (Selbsteintrittsrecht).111 Mit einem Urteil vom 26. September 2014 hat
das Verwaltungsgericht München systemische Mängel auch in Ungarn festgestellt.112 Dies
geschah, obwohl der Gerichtshof der Europäischen Union für 2013 keine systemischen
Mängel im ungarischen Asylsystem festgestellt hat.113 Das VG München setzte sich unter
Berufung auf neuere Erkenntnisse darüber hinweg. Es ließen sich, so das Gericht „diver-
se Kritikpunkte“ zur Inhaftierungspraxis Ungarns im Zusammenhang mit Asylfällen aus
Veröffentlichungen des UNHCR sowie von NGOs entnehmen. Es ist die Rede von An-
haltspunkten für eine Grundrechtsverletzung, insbesondere willkürliche und nicht dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügender Inhaftierungspraxis, „der die Asylbewer-
ber rechtsschutzlos ausgeliefert zu sein scheinen“.114
114 VG München, Urteil vom 26.9.2014 – M 24 K 14.50320, juris, Rdnr. 47 unter Anschluss an ei-
ne Entscheidung des VG Düsseldorf vom 28. Mai 2014, Az. 13 L 172/14.A, juris Rdnr. 69.
1. Nichtbeachtung des Unionsrecht und Tendenzen zu Moral Hazard
Man kann gewiss zu verschiedenen Bewertungen gelangen, was die Verantwortungszu-
rechnungen angeht. Manch einer geht davon aus, dass einige Mitgliedstaaten das geltende
europäische Recht nach dem Kalkül des „Moral Hazard“ missachten und sich vorsätzlich
durch Unterlassung der Registrierung bzw. der Durchführung eines Asylverfahrens oder
durch unangemessen harte und rechtswidrige Ausgestaltungen der Unterbringung und
des Verfahrens unattraktiv für Einwanderer machen. Man kann Staaten wie Griechenland
oder Ungarn auch in Schutz nehmen und konstatieren, dass sie kaum über die finanziel-
len Mittel verfügen dürften, um einer Masseneinwanderung nach dem Dublin-System
Herr zu werden. Man mag deutsche Gerichte dafür loben, dass sie sensibel die Men-
schenrechtslage in anderen europäischen Mitgliedsstaaten untersuchen – wie es das VG
München in dem genannten Urteil tut. Dabei sollte man aber nicht aus den Augen verlie-
ren, dass hier über Mitgliedstaaten geurteilt wird, die gleichberechtigte und gleichver-
pflichtete Mitglieder im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind. Insofern
könnte man dieselben Gerichte für ihre Mitwirkung an der Außerkraftsetzung des gelten-
den Schengen/Dublin-Systems auch mit guten Gründen kritisieren.
Doch um eine Feststellung kommt man auch beim besten Willen, pauschale Verantwor-
tungszuweisungen zu vermeiden, nicht herum: Das geltende europäische Recht nach
Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischer Weise nicht mehr beach-
tet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf. Die
an sich auf die gegenwärtige Krisenlage zugeschnittene Massenzustromrichtlinie ist ohne
Funktion, weil das Prinzip der koordinierten Freiwilligkeit die Diskrepanz zwischen Auf-
nahmebereitschaft mancher Länder und dem Mangel an Aufnahmebereitschaft anderer
Länder mit einem qualifizierten Ratsbeschluss nicht zu überbrücken vermag. Die Mängel
in einem praktisch gescheiterten europäischen Einwanderungs- und Asylsystem tragen
erheblich dazu bei, dass vom Nahen Osten aus über die Türkei und den Balkan bis nach
Deutschland und Schweden das System geordneter Einreise und eines kontrollierten Auf-
enthalts jedenfalls zeitweise und bis heute anhaltend zusammengebrochen ist. Die Sys-
temdefizite verschärfen Spannungslagen zwischen Mitgliedstaaten und führen in eine au-
ßenpolitische Abhängigkeit von Nachbarländern. Die EU muss vermutlich geopolitisch
Konzessionen an die Türkei machen muss, um das Wohlverhalten einer vorverlagerten
Grenzsicherung zu erzielen.
Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Amtswegigkeit Objektivität Wahrheitsforschung Verdacht: Die Geschichte wiederholt sich immer wieder.
Verdacht: Wir werden von Machthabern gezielt belogen.
Verdacht: Wir werden gezielt belogen.
Verdacht: Wenn die Justiz versagt, kann jeder Machthaber tun und lassen, was er will.
Verdacht: Wenn die Polizei versagt, kann jeder tun und lassen, was er will.
Verdacht: Wenn das Militär versagt, kann jeder tun und lassen, was er will.
Verdacht: Diktatur geistig abnormer schwerkrimineller StaatsanwälteBegründung: Gesunde Menschen im Amt tun so etwas nicht.GEISTIG ABNORME SCHWERKRIMINELLE MACHTHABER - VERDACHT
http://www.dieaufdecker.com/index.php?topic=946.0(1999 FISCHER UEBERSCHAER DER NATIONALSOZIALISMUS VOR GERICHT 1943-1952)
DIKTATUR KRIMINELLER STAATSANWÄLTE - VERDACHThttp://www.dieaufdecker.com/index.php?topic=55.0Es gilt die Unschuldsvermutung. Für externe Inhalte kann keine Verantwortung übernommen werden.
2014 GUIDO GRANDT DENKEN SIE IMMER DARAN SIE HABEN EIN RECHT AUF DIE WAHRHEIT.jpg
