ZZ KINDESMISSBRAUCH | MEHRERAU | KREMSMÜNSTER | VERDACHT
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http://www.dieaufdecker.com/index.php?topic=828.0MÄRZ 2015 KREMSMÜNSTER BERICHT 51-100Quelle:
http://www.ipp-muenchen.de/files/bericht_kremsmuenster_ipp_issn_1614-3159_nr-11.pdf201503xx IPP BERICHT STIFT KREMSMUENSTER.pdf
http://www.dieaufdecker.com/index.php?action=dlattach;topic=828.0;attach=8018ZITATE: Bericht Schweigen Aufdeckung Aufarbeitung Sexualisierte, psychische und physische Gewalt in Konvikt und Gymnasium des Benediktinerstifts Kremsmünster ZITATE-ENDE
Zur Dokumentation und zum Beweis:
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MÄRZ 2015 KREMSMÜNSTER BERICHT 51-100Persönlicher Hinweis 1: Maschinelle Transkription nach bestem Wissen und Gewissen jedoch ohne jegliche Gewähr.
Persönlicher Hinweis 2: Text-Seitennummern jeweils am Beginn jeder Text-Seite. Das Original besteht aus 275 PDF-Seiten. Im Original wurden bei den Text-Seitennummern jedoch die zwei ersten Seiten nicht berücksichtigt. Zum Beispiel: PDF-Seite 3 entspricht im Text-Seite 1. BZW Text-Seite 1 entspricht PDF-Seite 3.IPP 2015
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Chance hat, in den Himmel zu kommen, und sowieso in die Hölle kommen muss. Also das
war mein Ende, ich bin im Stift als Person geendet, die gedacht hat, ich bin nur dazu ge-
schaffen worden, um in der Verdammnis zu enden. Ich hab mir gedacht, ich hab gar keine
Chance, mein, mein – das, was ich bin, das hat überhaupt keine Chance, und ich muss in die
Hölle. Und das war für mich eine vernichtende Erkenntnis, die mich auch irgendwie vom
Selbstmord abgehalten hat, weil ich mir gedacht hab, wenn ich mich jetzt umbringe, dann
komm‘ ich ja gleich runter. Und ich versuch‘ halt jetzt, irgendwie noch aus der Zeit, die man
hier auf der Oberfläche bleibt, was zu machen.“ (Schüler 80er Jahre)
Eine befragte Expertin fasst ihre Einschätzung der Mönche in Bezug auf Sexualität so zusammen:
„Die sind selbst oftmals auf keinem anderen Niveau als die 14-jährigen. Das sind dann er-
wachsene Patres, die andere anleiten sollten, aber selbst nie über das Alter hinausgekom-
men sind innerlich. Wo der Zölibat dazu dient, diese Sexualfeindlichkeit weiter zu zementie-
ren, indem man über Sexualität einfach nicht reden darf, da wird es schädlich. Es kann sich
jeder erwachsene reife Mensch von mir aus zölibatär zum Leben entscheiden, das kann er
ja machen. Das machen ja auch sonst viele Leute, die keinen Partner haben. Es geht ja nicht
jeder Mann, der keine Frau hat, in ein Puff, es muss ja nicht sein. Es gibt ja Leute, die auch
sonst über längere Strecken zölibatär leben. Und Zölibat trägt dazu bei, die Sexualität zu
tabuisieren, und tabuisierte Belange haben halt mal die Eigenschaft, dass sie sich irgendwo
anders Bahn brechen.“
3.4 Benediktinische Ordnung: Ideal und Realität
Pädagogisches Handeln und Umgang mit Sexualität in einem Konvikt, das Teil eines Stifts des Benedikti-
nerordens ist, wird von dessen Vorstellungen einer guten Ordnung geprägt sein. Wenn aber die Realität
im Internat eine solche Fülle an Grenzverletzungen enthält, dann ist danach zu fragen, ob diese Ord-
nungsvorstellungen konsequent zur Anwendung kamen. Es ist also notwendig, diese Diskrepanz zwi-
schen Ideal und Realität zu beleuchten.
In der Regel des Heiligen Benedikt werden die Grundlagen des Lebens der Mönchsgemeinschaft sowie
die Übernahme und Durchführung der Aufgaben innerhalb des Klosters festgelegt. Diese Regel garan-
tiert die Tradition, und in der jeweils aktuellen Auslegung werden ihre konkrete und zeitgerechte An-
wendung für das Handeln in gegenwärtigen gesellschaftlichen Zusammenhängen definiert. Hinsichtlich
unserer Fragestellungen sind dabei einige Aspekte relevant: die Nähe zur autoritären Erziehung, die
Führung des Klosters und der Umgang mit Verfehlungen.
3.4.1 Regel des Heiligen Benedikt: Erziehung zu Demut und Gehorsam
Die Regel des Heiligen Benedikt18 bezieht sich nicht unmittelbar auf die Erziehung im Konvikt und die
Bildung im Gymnasium, wie sie im Stift Kremsmünster realisiert wurden. Diese Institutionen gab es zum
Zeitpunkt der Entstehung dieser Regel noch nicht. Der Heilige Benedikt sprach zwar auch von einer
Schule, aber die wurde als „Schule für den Dienst des Herrn“ eingerichtet:
18 Der Sinn dieser Regel vom Heiligen Benedikt von Nursia (480 – 547) wird im Orden regelmäßig überdacht und
aktualisiert. Diese Aktualisierungen werden in Satzungen niedergelegt, Erklärungen zur Regel werden in Gemein-
schaftsarbeit von verschiedenen Klöstern erarbeitet und vom kirchlichen Lehramt bestätigt.
„Prolog
Bericht Stift Kremsmünster
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45. Wir wollen also eine Schule für den Dienst des Herrn einrichten.
46. Bei dieser Gründung hoffen wir, nicht Hartes und Schweres festzulegen.
47. Sollte es jedoch aus wohlüberlegtem Grund etwas strenger zugehen, um Fehler zu bessern und
die Liebe zu bewahren,
48. dann lass dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am
Anfang nicht anders sein als eng.“ (Regel des Heiligen Benedikt)
Wie in anderen Passagen der Regel deutlich wird, ist der Charakter der „Schule des Herrn“ unter ande-
rem geprägt von der Forderung nach Demut und Gehorsam. Im o .a. Prolog macht der Heilige Benedikt
deutlich, dass er nichts „Hartes und Schweres“ festlegen will, gleichzeitig aber hält er es dann für legi-
tim, dass es „etwas strenger zugehen“ könne, wenn es um die Korrektur von Fehlern geht und das Ziel
darin besteht „die Liebe zu bewahren“. Strenge, die in Gewalt und Sadismus umschlägt, ist durch diese
Formulierung nicht gedeckt. Im Gegenteil: Es geht um die Sicherung einer positiven und achtsamen Be-
ziehung auch dort, wo es um das Überwinden von Fehlern geht. Die Grenze einer solchen auf Gehorsam
und Demut ausgerichteten Erziehung erscheint aus heutiger Sicht in großer Nähe zu autoritärer Erzie-
hung zu stehen, vor allem wenn physische Strafen als notwendiges Mittel eingeordnet werden.
Schläge und Züchtigungen werden in der Regel Benedikts häufig als Reaktion auf Verfehlungen vorge-
schrieben. Dies gilt besonders für Uneinsichtige und Knaben. Im Kapitel zu den Aufgaben des Abtes
heißt es:
„Kapitel 2: Der Abt
27. Rechtschaffene und Einsichtige weise er einmal und ein zweites Mal mit mahnenden Worten zu-
recht.
28. Boshafte aber, Hartherzige, Stolze und Ungehorsame soll er beim ersten Anzeichen eines Verge-
hens durch Schläge und körperliche Züchtigung im Zaum halten. Er kennt doch das Wort der
Schrift: ‚Ein Tor lässt sich durch Worte nicht bessern.‘
29. Und auch dieses: ‚Schlage deinen Sohn mit der Rute, so rettest du sein Leben vor dem Tod‘.“
Brüder, die durch Rutenschläge bestraft und geheilt werden sollen, sind die Uneinsichtigen und die Kna-
ben, die wohl generell als uneinsichtig verstanden werden.
„Kapitel 30: Die Strafe bei Mangel an Einsicht
1. Nach Alter und Einsicht muss es unterschiedliche Maßstäbe geben.
2. Daher gelte: Knaben und Jugendliche oder andere, die nicht recht einsehen können, was die
Ausschließung als Strafe bedeutet,
3. sollen für Verfehlungen mit strengem Fasten oder mit kräftigen Rutenschlägen bestraft werden.
Sie sollen dadurch geheilt werden.“
„Kapitel 45: Die Buße für Fehler im Oratorium
3. Knaben aber erhalten für eine solche Verfehlung Rutenschläge.“
Gleichwohl ist festzuhalten, dass für die Uneinsichtigen Rutenschläge erst nach mehrmaligen fruchtlo-
sen Ermahnungen einzusetzen waren. Außerdem schreibt die Regel des Heiligen Benedikt vor, dass Kna-
ben zwar von allen Brüdern der Gemeinschaft erzogen werden sollen, dass diese Erziehung aber in Ma-
ßen erfolgen müsse:
„Kapitel 70: Eigenmächtige Bestrafung eines Bruders
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4. Alle sollen jedoch Knaben bis zum Alter von fünfzehn Jahren gewissenhaft zur Ordnung anhalten
und beaufsichtigen,
5. doch geschehe auch dies immer maßvoll und überlegt.
6. Wer sich ohne Weisung des Abtes irgendetwas gegen einen Erwachsenen herausnimmt oder gar
den Knaben gegenüber sich zu maßlosem Zorn hinreißen lässt, den treffe die von der Regel vor-
gesehene Strafe.
7. Es steht ja geschrieben: ‚Was du selbst nicht erleiden willst, das tu auch keinem anderen an!‘“
In diesem Kapitel scheint ein deutlicher Unterschied zur oben beschriebenen autoritären Erziehung und
„schwarzen Pädagogik“ auf. Es gilt als Regelverstoß, wenn Anhalten und Beaufsichtigung nicht maßvoll,
überlegt oder sogar in maßlosem Zorn erfolgt.
Bei dieser Betrachtung wird deutlich, dass die über die Jahrzehnte ausgeübte psychische, körperliche
und sexualisierte Gewalt nach der Regel des Heiligen Benedikt nicht hätte geduldet werden dürfen. Re-
gelgerecht wären Sanktionen auf schwere Verfehlungen gewesen. Die Regularien hierfür sind in der
Regel 23 festgehalten:
„Kapitel 23: Das Vorgehen bei Verfehlungen
1. Es kommt vor, dass ein Bruder trotzig oder ungehorsam oder hochmütig ist oder dass er murrt
und in einer Sache gegen die Heilige Regel und die Weisungen seiner Vorgesetzten handelt.
Wenn er sich so als Verächter erweist,
2. werde er nach der Weisung unseres Herrn einmal und ein zweites Mal im geheimen von seinen
Vorgesetzten ermahnt.
3. Wenn er sich nicht bessert, werde er öffentlich vor allen zurechtgewiesen.
4. Wenn er sich aber auch so nicht bessert, treffe ihn die Ausschließung, falls er einsehen kann,
was diese Strafe bedeutet.
5. Wenn er es aber nicht versteht, erhalte er eine körperliche Strafe.“
Das wiederholt angesprochene Erziehungsmittel der körperlichen Strafe wirkt aus der heutigen Sicht
befremdlich, da weht der Geist einer jahrhundertelangen Erziehungsvorstellung, in der Gehorsam und
Unterordnung die zentralen Ziele sind, die in dieser Form heute nicht mehr akzeptabel sind. Aber was an
der benediktinischen Regel bis heute wichtig ist, ist ihre Ermahnung zur Mäßigung und zu einer ver-
nunftbestimmten Begründung von Strafen.
3.4.2 Anforderungen an die Führungspersonen
Bei einem unreflektierten, ersten Blick von außen mögen manche Teile der Regel des Heiligen Benedikt
als überkommen und nicht mehr aktuell erscheinen. Anderseits reklamieren prominente Vertreterinnen
und Vertreter der Benediktiner, dass in der Regel des Heiligen Benedikt auch Aspekte angelegt sind und
Antworten gegeben werden, die in aktuellen Debatten zu Organisationsentwicklung und Führungskultur
Gewicht haben. Zu nennen sind hier vor allem die Auftritte und Veröffentlichungen von Abtprimas Not-
ker Wolf (u. a. Wolf & Rosanna 2007) und Pater Anselm Grün (u. a. Grün 2006). In seinem Buch „Men-
schen führen – Leben wecken“ fragt Anselm Grün u. a. danach, was die Grundlage guter Führung ist und
welche Eigenschaften eine gute Führungskraft auszeichne. Seine Antwort darauf leitet sich aus der Regel
des Heiligen Benedikt ab und lautet im Wesentlichen „Menschlichkeit“. Einen zentralen Teil der Ausfüh-
rungen von Anselm Grün machen Anforderungen über die Person und Persönlichkeit des Führenden
aus, der maßvoll, uneigennützig und reif sein soll, um seine Mitarbeiter leiten und ein erfolgreiches
Bericht Stift Kremsmünster
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Team bilden zu können. Diese lassen sich direkt aus der Regel des Heiligen Benedikt ableiten, teilweise
sind diese dort auch direkt formuliert. Von Bedeutung für Grüns Ausführung sind sicher seine Erfahrun-
gen als Cellerar der Abtei Münsterschwarzach, wo er bis 2013 für die finanziellen Belange der Betriebe
der Abtei zuständig war.
Die Regel des Heiligen Benedikt formuliert explizit Anforderungen an die Führungspersonen, die sich
sowohl auf die Ausführung der Tätigkeiten als auch auf deren charakterliche Eignung beziehen. Den
Funktionsträgern Abt (Kapitel 2 sowie 64), Prior (Kapitel 65), Cellerar (Kapitel 31) und Dekan (Kapitel 21)
sind jeweils eigene Kapitel gewidmet, die hohe Ansprüche an Integrität und Kompetenz formulieren.
Anhand des „Kapitel 64: Einsetzung und Dienst des Abtes“ kann dies verdeutlicht werden: „2. Entschei-
dend für die Wahl und Einsetzung seien Bewährung im Leben und Weisheit in der Lehre, mag einer in
der Rangordnung der Gemeinschaft auch der Letzte sein.“
Durch die Arbeitsteilung zwischen Abt, Prior und Cellerar, den für die wirtschaftliche Situation des Klos-
ters verantwortlichen Pater, wird ein Organisationsgefüge beschrieben, das auch unter heutigen Ge-
sichtspunkten als funktional angesehen werden kann. Beispielswiese ist auch eine Unterstützung der
Führungspersonen vorgesehen, wie in „Kapitel 31: Der Cellerar des Klosters“ ausgeführt wird: „17. In
größeren Gemeinschaften gebe man ihm Helfer. Mit ihrer Unterstützung kann er das ihm anvertraute
Amt mit innerer Ruhe verwalten.“
Diese Ausführungen verdeutlichen, dass der Heilige Benedikt in seiner Regel Strukturen und Funktionen
eines Führungskonzepts beschrieben und festgelegt hat, die auch heutigen Bewertungskriterien gerecht
werden können. So lassen sich durchaus Entsprechungen zum Standardwerk „Führen in sozialen Organi-
sationen“ von Paula Lotmar und Edmond Tondeur (2004) finden.19 Es ist davon auszugehen, dass der
wirtschaftliche Erfolg vieler benediktinischer Klöster von dieser durchdachten Führungskonzeption ge-
fördert wurde. In Kremsmünster sind das – derzeit und teilweise seit Jahrhunderten – die Weinkellerei,
der Veranstaltungsservice, das Forstamt und die Gärtnerei.
20 Der Seniorenrat besteht in aller Regel aus dem Abt, dem Prior, einem vom Abt ernannten Pater und zwei vom
Kapitel gewählten Patres.
3.4.3 Macht und Ohnmacht des Abtes in der Gemeinschaft
Für die Einhaltung der Regel des Heiligen Benedikt sind die Oberen des Kloster und in letzter Konse-
quenz der Abt zuständig. Die Aufgabe des Abtes ist es, diese Verantwortung zu übernehmen; dabei kann
er sich jedoch die Unterstützung von Brüdern holen, deren Rat er schätzt. Ebenso kann und soll er die
Brüder der Gemeinschaft und/oder den Seniorenrat20 zur Beratung einberufen.
„Kapitel 3: Die Einberufung der Brüder zum Rat
1. Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusam-
menrufen und selbst darlegen, worum es geht.
2. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate gehe. Was er für zuträgli-
cher hält, das tue er.“
Wenn weniger wichtige Frage beraten werden müssen, wendet sich der Abt nicht an die ganze Gemein-
schaft, sondern bespricht sich nur mit den Älteren (Kapitel 3, 12).
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Die Möglichkeit, sich beraten zu lassen, entbindet den Abt jedoch nicht von seiner alleinigen Verantwor-
tung. Zum einen ist er es, der den Rat der Brüder einberufen muss, und zum anderen muss er im An-
schluss an die Beratung seine eigene Entscheidung treffen. Damit sind hohe Anforderungen an seine
Kompetenz, Souveränität und Integrität verbunden. Eine über die in der Regel des Heiligen Benedikt
hinausgehende organisatorische und institutionelle Unterstützung ist kaum möglich.
Wichtig ist dabei, dass der Abt die Rangfolge in der Gemeinschaft in der richtigen Weise festlegt. Dazu
hat er die Macht, darüber hinaus braucht er aber auch den Mut dazu.
Inwiefern die ganze Gemeinschaft und der Seniorenrat für den Abt in der Beratung hilfreich sind, hängt
im Wesentlichen davon ab, wer dort vertreten ist, sowie welche Kompetenzen und Interessen dort ver-
folgt werden. Letztere müssen nicht immer konform mit der Regel des Heiligen Benedikt gehen, wie
dieser bereits in seinem Prolog beschreibt und befürchtet. Für Mitglieder im Seniorenrat war es sicher
leichter, sich über Teile der Regel hinwegzusetzen oder diese im eigenen Sinne auszulegen.
3.4.4 Die Besprechung im Geheimen behindert eine gemeinsame und vermutlich wirksamere The-
matisierung
Eines der zentralen Themen unserer Untersuchung ist, warum es so lange dauerte, bis die Übergriffe im
Stift Kremsmünster in die Öffentlichkeit getragen wurden. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von
Ringen des Schweigens. Diese sind in der Regel des Heiligen Benedikt deutlich angelegt und vorge-
schrieben:
„Kapitel 46: Die Bußen für andere Verfehlungen
5. Handelt es sich aber um eine in der Seele verborgene Sünde, eröffne er sie nur dem Abt oder ei-
nem der geistlichen Väter,
6. der es versteht, eigene und fremde Wunden zu heilen, ohne sie aufzudecken und bekanntzuma-
chen.“
Dieses Kapitel birgt zwei vermutlich fatal wirkende Schwierigkeiten in sich. Dem betroffenen Bruder
stehen nur außerordentlich begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung, sich qualifizierte Unterstützung zu
holen. Der angesprochene Abt oder ein geistliche Vater sehen sich einer kaum lösbaren Aufgabe gegen-
über. Für die Klostergemeinschaft und die Kinder hat sich deshalb lange Zeit nichts zum Besseren ge-
wendet.
3.4.5 Eine gelebte Ordnung im benediktinischen Sinne hätte Missbrauch und Misshandlungen ver-
hindern können
Die benediktinische Ordnung wurde im Stift Kremsmünster offensichtlich über viele Jahrzehnte nicht mit
Leben erfüllt bzw. nicht in der Konsequenz realisiert, wie es der Ordensgründer vorsah. Selbst wenn
einige Formulierungen, die vor mehreren Jahrhunderten formuliert wurden, heute nicht mehr anwend-
bar scheinen bzw. in die Gegenwart hinein erneuert werden müssen, enthält das benediktinische Ord-
nungsmodell eine Reihe von Elementen, deren ernsthafte Anwendung die grenzverletzenden Vergehen
im Internat und Stift hätten verhindern können bzw. eine frühzeitige Aufdeckung und strukturelle Ver-
hinderung ermöglicht hätten.
Eine Reihe von Handlungen, die konviktsöffentlich erfolgten, überschritten jedes Maß und hätten vom
Abt oder den Mitbrüder angesprochen werden müssen. Von sehr vielen Schülern wird von sadistischen
Bericht Stift Kremsmünster
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Strafakten berichtet, die im Speisesaal und so vor unzähligen Zeugen stattfanden, also auch von Mitbrü-
dern wahrgenommen wurden. Einzelne Patres berichten von ihrem Unbehagen angesichts der enormen
Brutalität von Präfekten. Solche Vorfälle hätten im Seniorenrat oder im Konvent besprochen werden
müssen und, falls dies der Fall war, hätte der jeweilige Abt Interventionen einleiten müssen.
Ein Stift mit unterschiedlichen Handlungsfeldern (neben dem Gymnasium und Internat gab es Wirt-
schaftssektoren wie die Forstwirtschaft oder den Weinanbau und die Weinkellerei, Gastronomie und
eine Gärtnerei) ist sicher ein komplexes Gesamtsystem, das von der Führungsebene sehr viel Leitungs-
kompetenz erfordert. Die ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht in ausreichendem Maße vorhanden
gewesen. So konnten sich eigenständige Subsysteme entwickeln, in denen unkontrollierte Macht ent-
stehen und sich über viele Jahre halten konnte. Dass ein Konviktsdirektor mehr als ein Vierteljahrhun-
dert sein Amt mit einer Unzahl von Grenzüberschreitungen missbrauchen konnte, lässt sich kaum an-
ders erklären. Dass er zum Zeitpunkt einer im Seniorenrat zu behandelnden Beschwerde gegen ihn
selbst Mitglied in diesem Führungsgremium war, belegt wohl auch seine relativ unangefochtene Macht-
stellung.
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4 Präfekten und Gewalttaten
Auch wenn es heute dem Stift als Ordensgemeinschaft und den einzelnen Beteiligten als dessen Mitglie-
dern oder Mitarbeitern aufgrund der Dauer und des Spektrums der Taten, der Anzahl der Täter
und/oder aus persönlicher Verstrickung heraus sehr schwer fällt, sich mit der Verantwortung für das
Geschehene auseinanderzusetzen, zeigt die Datenlage, dass die Präfekten, Lehrer und leitenden Ver-
antwortlichen durch ihre jeweils individuelle Form der Gewaltanwendung bzw. -duldung in Konvikt und
Schule in unterschiedlichem Ausmaß Schuld auf sich geladen haben.
Ebenso betrifft dies das Stift als historische Bildungs- und Erziehungsinstitution. Die bestehenden Orga-
nisationstrukturen, die gelebte Organisationskultur, die durchgeführte Personalpolitik, -auswahl und -
entwicklung begünstigte das von der klösterlichen Tradition und von vielfältiger Gewalt geprägte Erzie-
hungsklima. Zusätzlich wurden die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen in Richtung Kinderschutz-
rechte und (körper-)straffreier Pädagogik bis in die jüngste Zeit nicht berücksichtigt. Darüber hinaus
erhalten die Mitglieder bzw. Mitarbeiter einer katholischen Schul- bzw. Erziehungseinrichtung Anteil an
der bestehenden institutionellen Macht, die es im Konvikt z. B. ermöglichte, eine Erzieheraufgabe ohne
entsprechende Ausbildung zu übernehmen, und in die Eltern ihre Kinder im vollen Vertrauen zu einer
katholischen Institution gaben. Hier hätte es also auch im Eigeninteresse Aufgabe der Führung des Stifts,
des Benediktinerordens, der katholischen Kirche und der Schulaufsichtsbehörde sein müssen, die
rechtmäßige Ausübung dieser übertragenen Machtform auf allen Hierarchieebenen zu überprüfen und
konsequent gegen Machtmissbrauch vorzugehen.
Gleichwohl sind es die einzelnen Menschen, die das Gesamtklima und die Kultur der Ordensgemein-
schaft bestimmen. Ebenso besteht hier eine deutliche Wechselwirkung. Die mit der gelebten Ordenskul-
tur verbundenen handlungsleitenden Orientierungen tragen prägend zur Sozialisation und zur Persön-
lichkeitsentwicklung der Ordensmitglieder bei. Für die Vergangenheit trifft das für das Stift Kremsmüns-
ter in einem verstärkten Ausmaß zu, da das Stift seinen Nachwuchs zu einem Großteil21 aus Konvikts-
Zöglingen auswählen konnte und daher schon sehr früh, zumeist ab einen Alter von ca. zehn Jahren,
massiven Einfluss auf die Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung seiner späteren Ordensmitglieder
genommen hat.
21 34 Mitglieder (67 %) des heutigen Konvents mit 51 Mitgliedern haben das Gymnasium/Internat des Stifts
Kremsmünster absolviert. Betrachtet man hiervon die 38 Mitglieder, die vor 1990 in den Konvent eingetreten sind,
haben davon 89 % das Gymnasium/Internat des Stifts Kremsmünster besucht. Von den 13 Mitgliedern des Kon-
vents, die ab 1990 eingetreten sind, war keiner Schüler im Stiftsgymnasium. (Stand 25. 1. 2015)
4.1 Entwicklungen im Gymnasium und Konvikt
„Oberösterreichisch-bäuerliches Empfinden und konservativer Ordensgeist haben
Kremmünster zu einer Hochburg der Tradition gemacht – nicht nur in klösterlichen, son-
dern auch in pädagogischen Belangen“ (Mandorfer 1976, S. 190).
Das öffentliche Gymnasium mit seiner Gründung im Jahr 1549 und das Konvikt, das seit 1804 besteht,
haben als private und somit nichtöffentliche Bildungs- und Erziehungseinrichtung in Trägerschaft des
Stift Kremsmünster eine lange Tradition. Diese wurde nach der Aberkennung des Öffentlichkeitsrechts
Bericht Stift Kremsmünster
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und der damit verbundenen Übernahme der Schule durch den Staat22 in der Zeit des Anschlusses an das
nationalsozialistische Deutschland von 1938 bis 1945, sofort nach der Wiedereröffnung der Schule und
des Konvikts durch das Stift am 30. 10. 1945 fortgesetzt. Die Schule begann nach dem Ende des 2. Welt-
krieges mit 182 Schülern in fünf Klassen. Davon waren ca. 150 in den fünf Abteilungen des Konvikts un-
tergebracht. Mit sieben Abteilungen im Zeitraum von 1968 bis 1992 erreichte das Konvikt sein Maxi-
mum, das dann bis zur Auflösung im Jahr 2013 fortwährend abnahm. Siehe hierzu folgende Tabelle, die
die Entwicklung des Gymnasiums und des Konvikts aufzeigt.
22 Das Gymnasium und das Konvikt wurden ab 12. 9. 1938 unter Ausschluss der Geistlichen zuerst in ein NS-
Schülerheim und eine NS-Oberschule und ab 26. 10. 1942 in eine SS-Heimschule umgewandelt (vgl. Mandorfer,
1999, S. 51).
23 *Die Anzahl der Schüler bezieht sich auf den Jahresanfang. Als Datenquelle dienten die angegebenen Jahresbe-
richte des Gymnasiums.
Tabelle 3: Entwicklung der Konvikts-Abteilungen und der Schülerzahlen
Internats-
phase
Zeitraum
Anzahl der
Konvikts-
abteilungen
Anzahl der
Schüler*23
Anzahl
externe
Schüler*
Anzahl
Klassen*
Anzahl
Lehrer*
Quelle Jahres-
bericht*
1
1945-1946
5
182
28
5
18
1946
2
1946-1956
6
228
37
6
18
1947
3
1956-1966
5
270
54
8
20
1957
4
1966-1968
6
309
60
8
25
1967
5
1968-1992
7
310
50
8
23
1969
6
1992-1997
5
245
k.A.
12
33
1993
7
1997-2005
3
289
k.A.
13
34
1998
8
2005-2006
2
387
k.A.
15
36
2006
9
2006-2013
1
366
k.A.
16
45
2012
In der Nachkriegszeit waren noch einige externe Schüler in Kosthäusern untergebracht. Nach dem Ende
der Kosthäuser wurden nur noch Kinder aus Kremsmünster als externe Schüler aufgenommen. Die Schü-
ler, die in Kosthäusern untergebracht waren, und die externen Schüler mussten an den Schul- bzw. Lern-
zeiten des Gymnasiums und des Konvikts teilnehmen, konnten aber zu Hause bzw. in Kosthäusern zu
Mittag essen und übernachten. Selbst Kinder aus der näheren Umgebung, für die es möglich gewesen
wäre, zu Hause zu übernachten, waren somit verpflichtet, im Konvikt zu leben, falls sie im Gymnasium
aufgenommen wurden. Diese Hauspolitik der Koppelung von Gymnasium und Konvikt erleichterte die
Belegung des Konvikts. Dies gilt besonders in der Zeit, als die Infrastruktur mit nur wenigen höheren
Schulen und schlechten Beförderungsmöglichkeiten kaum Alternativen für den Besuch einer höheren
Schule boten.
A: Ich musste im Internat sein. Das war mir völlig uneinsichtig, warum, denn als Zehnjähri-
ger hatte ich einen Schulweg von sieben Kilometern mit Fahrrad und öffentlichem Bus. Wa-
rum soll ich dann, wenn ich älter bin, nicht eine kürzere Strecke auch täglich zurücklegen
können?
I: Und wer hat das dann verfügt, dass Sie dann doch ins Internat kommen?
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A: Das war ganz eine klare Vorgabe: Wer jenseits der Gemeindegrenze wohnt, muss im In-
ternat sein. (Schüler 70er Jahre, Präfekt 80er Jahre)
Allerdings zeigte sich im Laufe des letzten Jahrhunderts, dass die Anmeldezahlen für das Gymnasium
und das Konvikt zurückgingen. Deswegen wurde ab 1990 beschlossen, die Koppelung von Gymnasium
und Konvikt aufzuheben und auch Mädchen im Gymnasium aufzunehmen (vgl. Boxleitner 2004, S. 90).
Damit wurden nach längeren internen Diskussionen sowohl die Koppelung als auch die Tradition der
Jungenschule beendet. Gleichzeitig, und sicherlich den rückläufigen Anmeldungen im Internat geschul-
det, wurden neben den weniger werdenden Konviktsabteilungen auch gemischtgeschlechtliche Tages-
heimgruppen eingeführt. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen hat sich kontinuierlich angeglichen und
beträgt aktuell 50:50.
A: Drum hab‘ ich auch damals bei der Entscheidung, ob man die Schule aufmachen soll, für
das Aufmachen gestimmt. Weil ich gesehen hab‘, dass nur so die Schule leben kann.
I: Also es gab auch Überlegungen, die zuzulassen nur für …
A: Es war eine harte Diskussion, wo viele dafür waren reine Internatsschule: Es macht ja
nichts, wenn wir kleiner werden, dann ist es noch ein bissl elitärer. Es gab dann die Diskus-
sion: nur Burschen aufnehmen oder Burschen und Mädchen. Im Endeffekt, wie man weiß,
hat sich dann die letzte Version durchgesetzt. Dieselbe Diskussion hab‘ ich als Direktor ja
dann noch mal g’habt, nämlich die Zeiten so lassen, dass sie fürs Internat passen, oder so,
dass sie für die anderen passen. Dann haben wir sie umgestellt für die Fahrschüler. Es war
die gleiche harte Diskussion, auch im Lehrkörper war das ja sehr umstritten. Es war eines
der Dinge, die ich ändern wollte. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Für den Rückgang des Interesses an Internatsschulen macht Mandorfer im Jahresbericht 1986 (S. 9 ff.)
ausschließlich äußere Gründe verantwortlich. So habe sich z. B. die schulische Infrastruktur verbessert
(lückenloses Netz von höheren Schulen im ländlichen Raum, Trend zu berufsbildenden Schulen, bessere
und kostenfreie Fahrtmöglichkeiten etc.), gebe es eine merkliche Abnahme der Schülerzahlen durch
geburtenschwache Jahrgänge, seien die Eltern nicht mehr bereit, ihre Kinder (in jungen Jahren) wegzu-
geben, werde eine massive Stimmungsmache vor allem gegen katholische Internatsschulen betrieben
(weltfremde und sexualfeindliche Erziehung, überholte Pädagogik), würden Erziehungswissenschaftler
einerseits Begriffe wie „elterlicher Gewalt“, „Elternrechte“ vehement ablehnen und andererseits die
Berechtigung zur Erziehung überhaupt in Frage stellen und somit für professionelle Erziehungsanstalten
keine Sympathien aufbringen. Dass diese Argumentation bei konservativ eingestellten Eltern bis heute
offene Türen einrennen kann, ist zu vermuten. Dass sie aber auch versucht, die inneren Gründe für die
mangelnde Nachfrage der Internatsschule des Stifts zu verschleiern, wird erst auf den zweiten Blick er-
sichtlich.
Hierzu gehören u. a.
• die Abschottung von äußeren Einflüssen
• das Festhalten an der gewalttätigen Erziehungstradition (auch wenn nach außen versucht wird,
sich als fortschrittlich und gleichzeitig traditionsbewahrend darzustellen)
• ein (bewusstes) Widersetzen gegen den pädagogischen Zeitgeist (partnerschaftliche und gewalt-
freie Erziehung, Kinderrechte, Selbstverwirklichung, die von Seiten der Konvikts-Präfekten als
blanker Egoismus bezeichnet wird, neben Leistungsdruck, Förderung der Individualität statt ein-
seitige Anpassung an die Gemeinschaft, Entwicklung einer lustfreundlichen Sexualität etc.)
• Erzieher mit einer problematischen Haltung zur Sexualität bzw. mangelnder sexueller Reife
Bericht Stift Kremsmünster
60
• und letztendlich ein Intimgrenzen missachtendes Erziehungsklima mit gehäufter sexualisierter
Gewalt
Diese inneren Gründe dürften aber für eine kritischere und weniger autoritär ausgerichtete Elterngene-
ration mehr oder weniger ersichtlich gewesen sein und haben daher auch zu den rückläufigen Anmel-
dungen beigetragen.
4.1.1 Das Personal
„In Kremsmünster fanden von jeher nur Männer mit einer gewissen Reife als Lehrer und Er-
zieher Verwendung“ (Mandorfer 1976, S. 187).
Während im Konvikt bis zu seinem Ende fast ausschließlich Ordensangehörige beschäftigt waren und
somit der stiftsinterne Einfluss nicht aus der Hand gegeben wurde, war dies im Gymnasium nicht der
Fall. So wurden 1945 schon zwei weltliche Lehrer der SS-Heimschule übernommen (vgl. Mandorfer Jah-
resbericht 1999; S. 52) und in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren weitere weltliche
Lehrer angestellt. Aufgrund der verringerten Personalressourcen von Seiten des Stifts erhöhte sich de-
ren Anteil kontinuierlich. Dadurch verschob sich mit der Zeit das Verhältnis zwischen geistlichen und
weltlichen Lehrkräften zu Gunsten der Weltlichen (siehe Tabelle). Darüber hinaus wurde die Leitung des
Gymnasiums 2001 einer weltlichen Lehrkraft übertragen.
Tabelle 4: Verhältnis geistliche und weltliche Lehrkräfte am Gymnasium
1954
1974
1984
1994
2004
2014
Weltliche
6
6
13
20
29
36
Geistliche
14
16
14
13
10
7
In Konvikt arbeiteten ab 1945 bis zu seiner Schließung in Jahr 2013 insgesamt 45 Präfekten und bis 2009
sechs geistliche Konviktsdirektoren. Ab 1945 wirkten im Konvikt 44 Jahre ausschließlich Ordensangehö-
rige als geistliche Präfekten. Alle geistlichen Präfekten haben in der Mehrheit als interne oder im gerin-
gen Ausmaß als externe Konviktsschüler das Gymnasium des Stifts besucht. Erst 1989 wurde aus Perso-
nalmangel innerhalb des Stifts der erste weltliche „Erzieher“ eingestellt, der selbst als externer Konvikts-
schüler das Gymnasium besucht hatte. Dieser verfügte ebenso wie die geistlichen Präfekten über keine
Erzieherausbildung und hatte nach dem Abbruch seines Studiums nach vier Semestern die Leitung eines
Studentenheims als Qualifikation vorzuweisen. 1992 wurden für acht Jahre die erste und einzige Erzie-
herin für die neue Mädchenabteilung24 eingestellt. Nach dem Ausscheiden des langjährigen Konviktsdi-
24 Über die Mädchenabteilung haben wir fast keine Informationen in den Interviews erhalten und es haben sich bei
uns auch keine Frauen gemeldet, die dort untergebracht waren. Inwieweit es dort zu Gewaltanwendung und sexu-
ellem Missbrauch gekommen ist, kann daher nicht beurteilt werden. Auf unsere schriftliche Nachfrage beim Stift
zur Existenz und zum Ende der Mädchenabteilung, haben wir folgende schriftliche Antwort erhalten:
„Ja, es gab in den 90er Jahren ca. 5 Jahre (bis ca. 1996) eine Art Mädchenabteilung (ca. 7 Mädchen). Nach dem,
was ich erfahren habe, ist P. Alfons hier einem Wunsch einer Mutter entgegengekommen und so hat sich dann
diese kleine Abteilung (im 2. Stock, neben dem Speisesaal, wo früher die Krankenabteilung der Kinder war) entwi-
ckelt. Es gab dann einmal einen (pubertären) Zwischenfall zwischen einem Mädchen und einem Burschen in einer
anderen Abteilung, und außerdem schien es P. X, der P. Alfons ablöste, dann auch nicht mehr gewollt zu haben
und die Sache wurde beendet. Außerdem gab es da auch keine Nachfrage mehr.“
IPP 2015
61
Nach unserer Erkenntnis führte der „(pubertäre) Zwischenfall“ zur Entlassung des beteiligten Jungen, während das
beteiligten Mädchen zum Frauenarzt gebracht wurde, um zu überprüfen, ob es zum Geschlechtsverkehr gekom-
men war.
rektors P. Alfons wurden dann noch zwei männliche Kollegen mit einer Lehrerausbildung von 97 bis 98
und von 98 bis 2000 für kurze Zeit im Konvikt eingesetzt.
A: Ja, ich hab‘ dann nach der Matura Wehrdienst g’macht, ja?, und hab‘ dann in Salzburg zu
studieren begonnen; hab‘ dann dort nach vier Semestern die Leitung von einem Studen-
tenheim übernommen und, ja, hab‘ mein Studium nie abgeschlossen. Ich hab‘ praktisch den
ersten Studienabschnitt und einige Dinge aus dem zweiten Studienabschnitt, ja, darf
dadurch an der Schule nur Untergymnasium unterrichten und bin dann, ja, 1989 hierher
gekommen.
I: Wo Sie dann wahrscheinlich auch ganz froh waren, dass Sie da ang’sprochen worden
sind…
A: Natürlich, ja.
I: … und da eine berufliche Möglichkeit …
A: Ja, natürlich.
I: Wer ist auf die Idee gekommen, Sie anzusprechen? Wie lief das? Man hat sich dann ein-
fach gegenseitig gekannt oder wie? Waren Sie da in der Zeit auch mit dem Kloster verbun-
den?
A: Na ja, ich war insofern verbunden, weil ich ja regelmäßig Sonntag für Sonntag im Kir-
chenchor gesungen habe.
I: Mhm. Also da ist der Kontakt eigentlich nie abgerissen.
A: Nie abgerissen, ja. Wobei dann dazukommt: Der Kirchenchorleiter war der Pater Ü.
(Konviktsdirektor, d. V.). (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Diese Form der Personalpolitik, bei der die Außeneinflüsse möglichst gering gehalten wurden, führte zu
einer Konservierung und Weitergabe der selbst erlebten Erziehungstradition und ist sicherlich nicht nur
durch die im Jahresbericht 1986 angeführten Argumente des ehemaligen Konviktsdirektors Pater A.
begründet. Neben dem Argument der beträchtlichen finanziellen Mehrkosten, die oft für die Schließung
von geistlichen Internaten verantwortlich sind, führt er darin noch weitere Rechtfertigungen an:
„Außerdem ist es mitunter gar nicht so leicht, fachlich qualifizierte, ideal gesinnte Erzieher
zu bekommen. Häufig wird der Beruf gewählt, sei es um nebenbei an einer nahen Hoch-
schule zu studieren, sei es daß man (etwa als Lehrer) im Augenblick keinen Posten findet
oder sich sonst in irgend einer Verlegenheit sieht. Auch das Abgangszeugnis einer Erzieher-
schule garantiert noch keinen Erzieher, der den Idealvorstellungen des Schulerhalters ent-
spricht. Notgedrungen muß man die Erzieher öfters wechseln, als einem lieb ist und als es
eigentlich im Interesse der Sache läge. Der Totaleinsatz »rund um die Uhr«, wie er für geist-
liche Präfekten mehr oder weniger selbstverständlich war, kann aus begreiflichen Gründen
von weltlichen Erziehern nicht verlangt werden, umso weniger wenn sie verheiratet sind
und selbst Familie besitzen.“ (Mandorfer, Jahresbericht 1986, S. 10)
Aus heutiger Sicht und mit dem heutigen Wissen sollte es nicht schwer fallen, in dieser, die weltliche
Erzieher abwertenden Argumentation, eine geschickte Täterstrategie zu erkennen. Diese diente in erster
Linie der Manipulation der Eltern, für die der Jahresbericht hauptsächlich bestimmt war; darüber hinaus
aber auch für die Mitbrüder, die sicherlich daran interessiert waren, den geistigen und religiösen Einfluss
in der Erziehung im Konvent in einer immer stärker säkularisierten Welt möglichst lange aufrecht zu
erhalten. Einen „ideal gesinnten Erzieher“, der den „Idealvorstellungen des Schulerhalters“ entsprochen
hat und die Kremsmünster-Tradition in „pädagogischen Belangen“ selbstverständlich weiterführt und
Bericht Stift Kremsmünster
62
der zusätzlich der heimlichen Motivation des Konviktsdirektors zur ungefährdeten Ausübung seiner
Missbrauchshandlungen entsprochen hat, war sicherlich nicht leicht zu finden. Wenn aufgrund man-
gelnder interner Personalressourcen schon die Notwendigkeit für die Anstellung von weltlichen Präfek-
ten bestand, war es für ihn bestimmt vorteilhaft, hierfür Menschen zu finden, die die bestehenden Er-
ziehungsvorstellungen und -praktiken aufgrund ihrer eigenen Schul- bzw. Konvikts-Sozialisation verin-
nerlicht hatten; ebenso Laien, die froh um eine Anstellung waren, ohne entsprechende Qualifikationen
nicht so leicht eine andere Stelle finden konnten oder aus anderen Gründen sich in einer Abhängigkeit
gegenüber ihrem Direktor befanden. Bei qualifizierten Erziehern, die entsprechend den sich verändern-
den pädagogischen Vorstellungen ausgebildet gewesen wären und in ihrer eigenen Erziehung keine so
gewalt- und leistungsorientiertes Erziehungstradition verinnerlicht haben, wäre die Wahrscheinlichkeit
sicherlich größer gewesen, dass „man die Erzieher öfter wechseln muss, als einem lieb ist“. Sie hätten
höchstwahrscheinlich mehr Kritik an der traditionellen Erziehungspraxis geübt und/oder hätten eher
von sich aus gekündigt. Darüber hinaus wäre durch die Anstellung von Erziehern, die in ihrer Ausbildung
auch ein Bewusstsein für grenzverletzendes Verhalten vermittelt bekommen haben, auch die Gefahr der
Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs um einiges gestiegen. Dies konnte sicherlich nicht im Interesse
des Konviktsdirektors gewesen sein, dessen (langjährige) Mitarbeiter keinen für ihn und seine Position
gefährlichen Widerstand ausübten, ebenso seine massiven Gewaltanwendungen und seinen sexuellen
Missbrauch nicht wahrgenommen haben oder wahrnehmen wollten bzw. ihn nicht konsequent konfron-
tiert haben und gegen sein gewalttätiges und sexuell missbräuchliches Verhalten eingeschritten sind,
kurz, auf deren Loyalität und Corps-Geist er sich verlassen konnte.
4.1.2 Die Abteilungen
Über den gesamten Zeitraum des Konvikts wurden die einzelnen Abteilungen entsprechend der Traditi-
on, aber sicherlich auch aus Kostengründen, jeweils von einem Präfekten geleitet. Dieser war sieben
Tage „rund um die Uhr“ für seine Abteilung mit bis zu 50 Heranwachsenden zuständig. Somit waren die
Zöglinge in starkem Ausmaß dem persönlichen Erziehungsstil, der emotionalen und sexuellen Reife und
damit der Fähigkeit zu Empathie und zur Regulierung von Nähe und Distanz sowie der Befähigung zu
einer respektvollen Intimität und der persönlichen Haltung zu Willkür, Machtausübung, Vernachlässi-
gung und zu emotionalem, körperlichem und sexuellem Missbrauch ihres Präfekten im Positiven wie
Negativen ausgeliefert. Dementsprechend mussten sie ihr Verhalten in der Abteilung auf die Persönlich-
keit und die Verhaltensweisen ihres Präfekten abstimmen. Wären zwei oder mehr Mitarbeiter für die
Betreuung einer Gruppe zuständig gewesen, hätten sie ihr Erziehungsverhalten aufeinander abstimmen
müssen und hätten die Heranwachsenden mehr und verschiedene Beziehungsangebote innerhalb ihrer
Abteilung gehabt. Dadurch hätte ein einzelner Präfekt keine so dominante Erziehungsposition einneh-
men können. Zudem wäre die Verheimlichung von missbräuchlichem Verhalten schwerer, aber sicher-
lich nicht unmöglich gewesen. Gleichzeitig hätte eine gegenseitige Kontrolle innerhalb der einzelnen
Abteilung mehr Chancen zur Regulierung von Fehlverhalten bieten können. So kam diese Kontrollfunkti-
on hauptsächlich den Vorgesetzten zu, und es gab nur die Möglichkeit zum Austausch über die Tätigkeit
zwischen den einzelnen Abteilungen, aber nicht innerhalb der Abteilungen in den Präfekten-
Konferenzen. Es gab auch keine Teamsupervision u. a. zur Bearbeitung von problematischen Erziehungs-
situationen, zum Verständnis der gegenseitigen Psychodynamik bei schwierigen Betreuungsverläufen
und zur Reflexion der Teamdynamik.
Die Abteilungen waren nicht altershomogen zusammengesetzt, so dass je nach historischem Zeitraum
zwischen zwei und drei Alters- bzw. Klassenstufen in einer Abteilung untergebracht waren. Dies hatte
für die Präfekten den Vorteil, im Rahmen des Senioren-Systems Überwachungs- und Kontrollfunktionen
IPP 2015
63
an ältere Abteilungsangehörige zu delegieren. Dadurch mussten die Präfekten speziell in den Studierzei-
ten nicht immer anwesend sein, und es war Aufgabe der Senioren, für die Einhaltung der Ordnung und
des Silentiums zu sorgen.
Je nach Internatsphase gab es ein oder mehrere Abteilungen mit der gleichen Alterszusammensetzung.
Die Verteilung der Zöglinge erfolgte einerseits auf Wunsch der Eltern, andererseits gab es die Tendenz,
schwierige bzw. lernschwächere Schüler in Abteilungen mit entsprechend strengen Präfekten zuzuord-
nen. Eine besondere Abteilung war das Juvenat, das es von 1945 bis 1968 gab, und in das ältere Kon-
viktsschüler aufgenommen wurden, bei denen eine Eignung für geistliche Berufe angenommen wurde.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Juvenat von1947 bis 1957 von einem Präfekten geleitet, der diese
Aufgabe im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch abgeben musste. Aufgrund dieser Tatsache und
aufgrund unserer Interviews ist sicher davon auszugehen, dass Ordensangehörige, darunter auch späte-
re Präfekten, durch diesen Pater sexuell missbraucht worden sind. Nach dem Ende des Juvenats wurden
die zumeist leistungsstarken Schüler mit Eignung für einen geistlichen Beruf in der 7. Abteilung betreut.
Diese Abteilung wurde von 1969 bis 1994 (25 Jahre) von Pater K. betreut, der in den Interviews durch-
weg positiv beurteilt wird. Eine weitere Spezialabteilung war der sogenannte Hades. Der Hades war in
der Nähe der Räumlichkeiten des Konviktsdirektors. Dort übernachteten in der Zeit von Konviktsdirektor
X. von ihm ausgewählte Konviktsschüler, die tagsüber einer anderen Konviktsabteilung zugeordnet wa-
ren. Der Hades erleichterte ihm einen schnellen Zugriff auf seine Lieblingszöglinge. Es ist davon auszu-
gehen, dass die Gefahr für das Erleiden eines sexuellen Missbrauchs für Konviktsschüler, die während
der Zeit des Konviktsdirektors X. im Hades übernachtet haben bzw. übernachten mussten, besonders
groß war.
4.2 Gewalttaten in Schule und Konvikt
4.2.1 Vernachlässigung in Konvikt und Schule
Mit dem Eintritt in dem Konvikt ging ein massiver Verlust an Privatheit einher. Ab jetzt fand das Leben
fast ausschließlich in einer Gruppe statt. Ein Präfekt war die ganze Woche alleine zuständig für eine
Gruppe zwischen 20 und 50 Heranwachsenden. Dementsprechend war die Pädagogik auf die Einhaltung
der vorgegebenen Tagesstruktur, Regeln und Normen, auf die Erreichung der Leistungsvorgaben und auf
die Beherrschung der Gruppe ausgerichtet. Alleine aufgrund dieser Rahmenbedingungen war in der
Erziehung im Konvikt kaum bis kein Platz für die Berücksichtigung persönlicher Bedürfnisse, emotionaler
Befindlichkeiten und für einen individuellen Förderbedarf. Gleichwohl gab es ein reichhaltiges Angebot
im schulischen, musischen, künstlerischen und sportlichen Bereich, sodass vorhandene Talente geför-
dert wurden. Zumeist war dies mit hohem Leistungsdruck verbunden, und Zöglinge mit geringer Bega-
bung oder anderen Interessen blieben oftmals „auf der Strecke“ oder mussten hierfür noch Demütigun-
gen über sich ergehen lassen. Für Präfekten, die mehr auf die Bedürfnisse und emotionalen Nöte ihrer
Schützlinge eingingen, bestand die Gefahr, dass sie sich dadurch überforderten und bald an ihre eigenen
Belastungsgrenzen stießen. Für Zöglinge, die mit diesen Bedingungen, z. B. aufgrund mangelnder emoti-
onaler Unterstützung, fehlender Förderung oder mangelnder Leistungs- und/oder Anpassungsfähigkeit,
nicht zurechtkamen, war es auf Dauer unmöglich, sich in die Gemeinschaft zu integrieren und dem
Druck standzuhalten, den die herrschende Selektionspraxis auf sie ausübte. Diese war gezielt darauf
ausgerichtet, die „Schwachen“ zu entfernen. Im Folgenden werden weitere Beispiele der Vernachlässi-
gung der Zöglinge angeführt:
Bericht Stift Kremsmünster
64
• Bei der Ernährung wurde lange Zeit wenig bis keine Rücksicht auf die Wünsche der Heranwach-
senden genommen. Diese wurden nicht erfragt, sondern ganz im Gegenteil, was auf dem Tisch
kam, musste aufgegessen werden. Besonders in der Nachkriegszeit, aber auch noch darüber
hinaus wurden Zöglinge mit Gewalt genötigt, Lebensmittel zu essen, die ihnen nicht schmeck-
ten.
• Die Gestaltung der Räumlichkeiten diente der Betreuung der Gruppe und nahm wenig Rücksicht
auf die Bedürfnisse der einzelnen Heranwachsenden. Es waren damals große, meist kalte und
karg eingerichtete Räume, die selbst bei der Körperhygiene kaum Platz zum Rückzug bzw. für
Privatheit boten.
• Es herrschte eine straffe Zeitstruktur, die wenig Raum für die eigenverantwortliche Nutzung der
Zeit beinhaltete und in der sich die Zöglinge größtenteils extrem leise verhalten und ruhig sitzen
mussten. So waren die Heranwachsenden während langer Studierzeiten und bei den Essenszei-
ten gezwungen, ein vor allem für die Jüngeren nicht altersentsprechendes Silentium einzuhal-
ten.
• Verhaltensauffälligkeiten wurden vorwiegend als Störung wahrgenommen – es wurde nicht
nach deren möglichen (psychischen) Ursachen geforscht.
• Vereinzelt mussten Zöglinge trotz Krankheit am Unterricht teilnehmen. Nach schweren körperli-
chen Misshandlungen war nicht immer eine entsprechende ärztliche Versorgung gegeben. Der
Gemeindearzt unterließ es, schwere körperliche Misshandlungen bei den entsprechenden Be-
hörden anzuzeigen. Gesundheitsuntersuchungen wurden nicht nur vom medizinischen Personal
ausgeführt und bargen die Gefahr von schweren sexuellen Grenzverletzungen durch entspre-
chend motivierte Lehrer bzw. Präfekten.
• Den Zöglingen wurde ein mangelnder Schutz vor körperlichen und sexualisierten Gewalttaten
geboten, hierzu gehörten:
o Unterlassene Hilfeleistung bei Zeugenschaft: Lehrer und Erzieher schritten selbst bei un-
kontrollierten brutalen körperlichen Gewaltanwendungen ihrer Kollegen nicht ein
o Präfekten und Lehrer forderten zu Klassenstrafen auf und förderten dadurch die Gewalt
unter den Schülern/Zöglingen. (z. B. „Vogelfrei“, „durch die Gasse laufen“, „Erschie-
ßungskommandos“)
o Unterlassene Konfrontation der Täter bei körperlicher und sexualisierter Gewalt: Kolle-
gen, die extremes körperliches Verhalten und/oder öffentlich sexualisierte Gewalt zeig-
ten, wurden nicht zur Rede gestellt, und Gerüchten zu sexuellen Grenzüberschreitungen
wurde nicht bzw. nicht konsequent nachgegangen
4.2.2 Psychische und körperliche Gewalt als Teil der Strafpädagogik in Konvikt und Schule
„Die Akzeptanz der Körperstrafe von wehrlosen Kindern ist ein Indikator für die Bereitschaft
einer Gesellschaft, Konflikte mit Schwächeren über Gewaltanwendung zu lösen. Sie sagt
etwas aus über Qualität und Niveau der Interaktionskultur. Der Kultur des zwischenmensch-
lichen Umgangs. Sie ist ein Indikator für die latente und manifeste Aggressivität einer Kul-
tur“ (Perrez, 1997, S. 299).
Auch wenn die Heimordnung von 1980 (vgl. Mandorfer 1981, S. 26 f.) einerseits den Versuch einer Er-
ziehung ohne Strafen als utopisch bezeichnet und somit festzustellen ist, dass für die damaligen Erzie-
hungsverantwortlichen eine straffreie Erziehung lebensfremd und undurchführbar sei, wird andererseits
darin ein falsches Zeugnis von der latenten und manifesten Aggressivität der Erzieher und ihrer gewalt-
tätigen Strafpädagogik abgegeben:
IPP 2015
65
„Strafen
Wir halten nicht viel von Strafen – wichtiger sind gutes Zureden und sachliche Argumente.
Aber der Versuch, in der Erziehung einfach ohne Strafen auskommen zu wollen, scheint uns
utopisch. Die üblichen Strafen sind: neben Wiedergutmachen eines angerichteten Schadens
Ausgehverbot, Spielverbot, zusätzliche Arbeiten, ausnahmsweise Heimfahrverbot. Wenn
Du mit einem Erzieher Krach gehabt hast, geh auf jeden Fall zu ihm und versuche, mit ihm
ins Gespräch zu kommen. Häufig wird es am Platz sein, daß Du Dich entschuldigst, auf alle
Fälle erkläre Dein Verhalten! Versuche aber auch Dich nach Möglichkeit in die andere Seite
hineinzudenken! Die Eltern informiere sachlich und fair. Wenn Du Dich gedemütigt, unge-
recht behandelt oder gar in Deiner Gesundheit gefährdet fühlst, dann rede mit dem Kon-
viktsdirektor, mit einem Schülervertreter oder mit sonst jemand, zu dem Du Vertrauen
hast! Selbstverständlich wird jeder es verstehen und billigen, wenn Deine Eltern sich für
Dich einsetzen. So aber, wie Du immer wieder froh bist, wenn man für Dich Verständnis hat
und Dir verzeiht, sei auch selbst stets zu Gleichem bereit! Zweifle auf gar keinen Fall daran,
daß man Dich gern hat und letztlich doch Dein Bestes will!“ (aus der Heimordnung von
1980, F. d. Inhalt verantwortlich: P. Alfons Mandorfer)
Der Abschnitt über Strafen in der Hausordnung verdeutlicht, wie weit Theorie und Praxis der Strafpäda-
gogik in Wirklichkeit auseinanderklaffen, und es bleibt rätselhaft, warum die darin erwähnten ‚üblichen
Strafen‘ zu einem Gefühl der Gesundheitsgefährdung führen konnten. Gleichzeitig wird den Zöglingen
suggeriert, dass die Schuld für die Bestrafung bei ihnen liegt und der strafende Erzieher nur ihr Bestes
will. Dabei wird nicht berücksichtigt, inwieweit das bestehende Macht- und Abhängigkeitsgefüge zur
Anpassung an die bestehenden Regeln und Normen und zur Wahrung der eigenen Interessen und der
bestehenden Machtverhältnisse dienen soll (vgl. Zöller 1997, S. 10 f.). Ebenso bleibt unerwähnt, dass die
Strafen oftmals „willkürlich, unreflektiert, spontan, aus reiner Autoritätssucht, besonders aber aus Un-
geduld und mangelnder Belastbarkeit und geringer Selbstkontrolle verhängt“ (Zeltner 1997, S. 175)
wurden. Alle von uns analysierten Dokumente belegen mit Ausnahme der (theoretischen) Abhandlun-
gen von Alfons Mandorfer zur Pädagogik im Internat und Gymnasium bzw. zu deren Geschichte, in de-
nen dieser ein unwirkliches Bild der bestehenden Erziehungspraxis beschreibt, das Fortwirken der tradi-
tionellen und gewaltgeprägten Erziehungspraxis seit dem Mittelalter bis in die jüngste Gegenwart hin-
ein. Emotionale und körperliche Gewaltanwendungen wurden über einen langen Zeitraum als legitime
und notwendige Erziehungsmittel toleriert und bildeten eine nicht hinterfragte Normalität im Krems-
münsterer Erziehungsalltag. Auch wenn der „Spanische“ als sichtbares Zeichen einer altertümlichen
Gewaltpädagogik in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts abgeschafft wurde, wurden die Philo-
sophie der schmerzlichen Strafpädagogik und die damit einhergehenden Strafen, Strafaktionen, Bestra-
fungsrituale, Normen und Verhaltensgebote, die auch zur Förderung der Gewalt unter den Schülern
dienten, und die Aggressivität im zwischenmenschlichen Umgang unreflektiert über Generationen hin-
weg zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung und Kultur weitergereicht. Diese Bewahrung der
Erziehungstradition war zudem resistent gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen in Richtung ge-
waltfreie Erziehung und Kinderschutz. So war in der Erziehungspraxis des Stifts lange Zeit eine systema-
tische Ausübung von emotionaler und körperlicher Gewalt u. a. bei Verstößen gegen die bestehenden
Normen und Verhaltensregel, bei Ungehorsam und Respektlosigkeit, bei mangelnden Fähigkeiten und
Leistungsversagen sowie zur Schaffung eines angstbetonten Gewaltklimas zur Erreichung der angestreb-
ten Erziehungs- und Leistungsziele handlungsleitend. Dem widerspricht auch nicht, dass sich die Lehrer
und Präfekten in unterschiedlichem Ausmaß daran orientierten und es auch Lehrer und Präfekten gab,
die kaum bis keine emotionale und körperliche Gewalt ausübten. Ebenso hatten manche Gewalttäter
zugleich auch eine fürsorgliche Seite. Da es kein für alle verbindliches Strafsystem bzw. keine Kontroll-
mechanismen zur regelhaften Strafausübung gab, konnten die Strafen u. a. aus reiner Willkür, mit über-
Bericht Stift Kremsmünster
66
zogener Härte, Brutalität und Sadismus bzw. aus Machtmotiven heraus erfolgen. Neben der Regel-
kenntnis war es für die Zöglinge daher extrem wichtig, sich auf den persönlichen Erziehungsstil, die Per-
sönlichkeit und die augenblickliche Verfassung ihres jeweiligen Lehrers bzw. Präfekten einzustellen. Dies
war deswegen so wichtig, weil die brutalsten Körperstrafen – bisweilen unter totalem Kontrollverlust –
aus Ungeduld, bei Erreichen der Belastbarkeitsgrenzen und aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur
Selbstkontrolle der einzelnen Präfekten erfolgten.
„Echte Autorität äußert sich nicht in Druck, Gewalt oder Zwang, sondern wirkt durch Vor-
bild und Beispiel. Gefördert wird sie nicht durch Strafen und Polarisierungen, vielmehr
durch das Erlebnis der Verbundenheit, durch das Aufzeigen des Gemeinsamen und Verbin-
denden, durch Transparenz der Strukturen und Maßnahmen. Gewiß haben gerade viele von
unseren Internaten hier einen echten Nachholbedarf, ein Umlernen und Dazulernen wird
sich segensreich auswirken!“ (Mandorfer 1986, S. 18 f.)
Aufgrund der vielen Beispiele zur Straf- und Gewaltpädagogik in anderen Kapiteln, kann an dieser Stelle
auf die Nennung von weiteren Beispielen verzichtet werden.
4.2.3 Sexualisierte Gewalt
Während die gewalttätige Strafpädagogik Teil eines geteilten Handlungskonzeptes war, trifft dies für die
sexuelle Gewalt nach unserer Erkenntnis nicht zu. Gleichwohl begünstigten bzw. stützten u. a. folgende
Faktoren die Ausübung von sexualisierter Gewalt:
• die institutionellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen
• die Personalauswahl, bei der die Eignung der Präfekten und der Führungspersonen mangelhaft
überprüft wurde
• die Haltung gegenüber den Zöglingen, bei der die Erwachsenen u. a. über die Heranwachsenden
herrschen können, gewalttätige Strafen legitim sind, und die Folgen der Gewaltanwendung von
einigen bis heute verharmlost bzw. nicht beachtet werden
• die Missachtung des Kindswohls bzw. des Kinderschutzes
• fehlendes professionelles Beschwerdemanagement und fehlende Präventionskonzepte
• der Vorrang des Rufes der Institution bzw. des Täterschutzes vor dem Opferschutz
Sexuell orientierte Gewaltausübung lässt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum von mehreren
Tätern nachweisen, so dass man davon ausgehen kann, dass auch die sexuelle Gewalt über Generatio-
nen innerhalb des Stifts weitergegeben wurde.25 Erhärtet wird diese Sichtweise dadurch, dass in den
fünfziger Jahren der Präfekt des Juvenats (Konvikts-Abteilung für den geistlichen Nachwuchs), der
gleichzeitig Novizenmeister war und damit zuständig für die Anleitung und Ausbildung des Klosternach-
wuchses, auch zur Gruppe der Sexualstraftäter gehört. Trotz der Anzahl der Sexualstraftäter über einen
so langen Zeitraum gab es keine bzw. wurden keine wirksamen Kontrollmechanismen, Beschwerdesys-
teme und Präventionskonzepte eingeführt bzw. umgesetzt, die die Ausübung von sexueller Gewalt er-
schwert und weitere Sexualstraftäter schneller überführt hätten. Hierzu hätten u. a. die mangelhafte
Reflexions- und Kommunikationskultur (über persönliche Empfindungen im Zusammenhang mit der
Erziehertätigkeit), die Tabuisierung der Sexualität, die herrschende Sexualmoral und (sexuelle) Doppel-
25 An dieser Stelle ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Erleiden von sexualisierter Gewalt ein Grund dafür sein
kann ebenso sexualisierte Gewalt auszuüben. Aber es ist mit Sicherheit falsch anzunehmen, dass selbsterlebte
sexualisierte Gewalt zwangsläufig weitergegeben wird.
2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1965
1966
1969
1972
1974
1984
1987
1989
1991
2006
1
2
1
1
1
2
2
2
1
7
10
12
15
18
22
25
Dienstjahre
IPP 2015
67
moral kritisch hinterfragt werden müssen und wären Schulungen, u. a. zur Nähe-Distanz-Thematik, zum
Erkennen von sexualisierter Gewalt, sexueller Grenzverletzung und von Täterstrategien nötig gewesen.
Dass an diesen Veränderungen der langjährige Konviktsdirektor (1970 bis 1996), der selbst zur Gruppe
der Sexualstraftäter gehört, kein Interesse gehabt haben kann, ist selbsterklärend. Sein persönliches Ziel
war sicherlich, sein Arbeitsgebiet so zu gestalten, dass er sein Missbrauchsverhalten möglichst lange
ohne Konsequenzen ausführen konnte. Warum sein Umfeld nicht in der Lage oder bereit war, das Aus-
maß seines Wirkens zu erkennen, den öffentlich sichtbaren sexualisierten Grenzverletzungen Einhalt zu
gebieten, vorhandene Gerüchte und Hinweise konsequent zu verfolgen und ihn letztendlich zu stoppen,
ist trotz aller Erklärungsversuche nur schwer nachzuvollziehen.
Auch hier wird aufgrund der vielen Beispiele zur sexualisierten Gewalt in anderen Kapiteln darauf ver-
zichtet, weitere Beispiele anzuführen.
4.3 Vorbemerkungen zur Analyse der Interviews mit Präfekten
Die folgende Analyse bezieht sich auf 13 Interviews, die wir mit elf geistlichen Präfekten des Konvikts
und einem weltlichen Präfekten geführt haben. Die Anzahl von 13 Interviews bei 12 Personen kommt
dadurch zustande, dass wir bei einem Pater ein Nachinterview geführt haben.
Folgende Abbildungen geben einen genaueren Einblick in den Beginn und die Dauer der Tätigkeit im
Konvikt.
Abbildung 8: Beginn der Präfektentätigkeit der interviewten Präfekten (N=12)
Abbildung 9: Dauer der Präfektentätigkeit der interviewten Präfekten (N=12)
Alle 12 Präfekten haben eine durchschnittliche Dienstzeit von 15,2 Jahren. Die erste Präfekten-Gruppe,
die bis 1980 begonnen hat, erreicht einen Durchschnitt von 19,6 Jahren. Hierunter befindet sich ein
Präfekt, der nach sieben Jahren aufgrund sexualisierter Gewaltanwendung als Präfekt abgezogen wurde,
aber noch lange Zeit bis zu seiner Pensionierung als Lehrer am Gymnasium tätig war. Ebenso beinhaltet
diese Gruppe die sechs Präfekten, die ab den 60er bzw. 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit durch-
schnittlich 21,7 Jahren überdurchschnittlich lange als Präfekt tätig waren.
Bericht Stift Kremsmünster
68
Bei der zweiten Präfekten-Gruppe, die ab 1980 ihre Tätigkeit aufgenommen hat, reduziert sich die
durchschnittliche Dienstzeit auf neun Jahre. Hierzu trägt aber ein Präfekt, der diese Position nur ein Jahr
ausübte, stark bei. Ohne ihn erhöhen sich die durchschnittlichen Dienstjahre auf elf Jahre.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die interviewten Präfekten einerseits einen langen Zeitraum des
Konvikts, von 1965 bis zum Ende des Konvikts 2013, abdecken und sie andererseits größtenteils auf eine
lange Dienstzeit zurückblicken können. Zusätzlich ist noch zu bedenken, dass alle von uns interviewten
Präfekten im Zeitraum zwischen 1945 bis 1986 selbst mehrheitlich interne oder geringfügiger externe
Konviktsschüler waren. Somit haben wir zwei unterschiedliche Schüler- und Erziehergenerationen im
Interview gehabt. Daher haben wir einerseits etwas über die Präfekten der Nachkriegszeit erfahren, und
andererseits haben wir Aussagen der zweiten Präfekten-Gruppe über die Erzieherpersönlichkeiten und
Erziehungsmethoden der ersten Präfekten-Gruppe und über deren Zusammenarbeit erhalten.
Bevor im Folgenden genauer auf die Sozialisation der Präfekten eingegangen wird, ist ein Hinweis ange-
bracht. Die wissenschaftliche Analyse wurde primär von ehemaligen Schülern eingefordert und war da-
her nicht der Wunsch der interviewten Präfekten. Unsere wissenschaftlichen Aufdeckungsbemühungen
sowie die Analyse der Gewaltthematik untergraben deren Bestrebungen zur Verharmlosung der Gewalt
und zur Verheimlichung gegenüber der Öffentlichkeit. Damit stand die Analyse in Gefahr, als Angriff
wahrgenommen zu werden. Dies begünstigt die Einnahme einer inneren wie äußeren Verteidigungs-
und Abwehrhaltung. Daneben ist ein offenes Sprechen über selbstausgeübte Gewalt in Verbindung mit
der Schuldfrage für die meisten Menschen schwer. Bei unseren Gesprächen mit den ehemaligen Kon-
vikts-Präfekten beeinflusste dies darüber hinaus ebenso das Sprechen über die selbst erfahrenen und
miterlebten bzw. beobachteten Gewaltformen. In den Interviews wird dies z. B. durch Satzabbrüche,
Passivität (lange Pausen, Schweigen), fehlende Erinnerungen (im Sinne der Instrumentalisierung des
Gedächtnisses), Verharmlosungen, Rationalisierungen, Verleugnung und Lügen deutlich. Dies behindert
oder erschwert den Aufdeckungsprozess. Gleichzeitig ist es ein Hinweis auf den Stand der bisherigen
Reflexionsbemühungen der ehemaligen Präfekten und zeigt, wie groß die Abwehr gegen die kognitive
und emotionale Bewusstwerdung von eigenen Opfer- und Täteranteilen ist. Zusätzlich waren die geistli-
chen Präfekten als ausgebildete Priester bisher in der (gläubigen katholischen) Öffentlichkeit eher in der
Position, andere Menschen nach ihren moralischen Maßstäben zu beurteilen (und zu erziehen) und ha-
ben aufgrund ihres Amtes die Macht, in der Beichte Sünden zu vergeben. Durch den Missbrauchsskandal
kam es für sie zu einem unangenehmen Macht- und Positionswechsel. Jetzt wird ihr gewalttätiges Ver-
halten öffentlich beurteilt und von uns wissenschaftlich analysiert. Damit geht auch ein Kontrollverlust
über die Deutungshoheit einher.
4.4 Sozialisation der Präfekten – Schulzeit
4.4.1 Entscheidung für das Internat
Bei den von uns interviewten Präfekten fällt auf, dass einige damals auf eigenen Wunsch, teilweise sogar
gegen Vorbehalte26 der Eltern, ins Gymnasium nach Kremsmünster kamen und keiner uns berichtete,
gegen seinen Willen dorthin gekommen zu sein. Dadurch unterscheiden sie sich von der Gesamtheit der
Internatsschüler, da darunter u. a. auch „abgeschobene“ Kinder waren. Gründe für letzteres waren z. B.
26 So waren z. B. die frommem Eltern eines späteren Präfekten gegen den Schulbesuch ihres Sohnes, da sie der
Ansicht waren, dass die ehemaligen Kremsmünsterer zwar beruflich erfolgreich, aber moralisch „unter ferner lie-
fen“ einzustufen seien.
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zerrüttete Familienverhältnisse, Erziehungsprobleme und/oder mangelnde Zeit bzw. Lust zur Ausübung
der Erziehungsaufgabe. Ansonsten gibt es eine große Übereinstimmung in den Motiven für den Besuch
des Gymnasiums/Konvikts.
Ein Präfekt stammt aus Kremsmünster. Alle anderen kommen aus der Umgebung und größtenteils aus
den vom Stift betreuten Pfarrgebieten. Bei zwei Patres aus der älteren Generation sind die Eltern erst
nach dem Krieg in die Gegend gezogen, einer davon erwähnt in diesem Zusammenhang die Heimatver-
treibung seiner Familie. Bei entsprechender Eignung für einen höheren Schulbesuch fiel daher die Ent-
scheidung für Kremsmünster oftmals aufgrund der räumlichen Nähe und aufgrund fehlender Alternati-
ven. Gleichwohl hatte das Stiftsgymnasium in der Umgebung einen guten (elitären) Ruf, und dorthin
gehen zu dürfen, wurde von den von uns interviewten Präfekten daher als etwas Besonderes bzw. als
Auszeichnung wahrgenommen. Dies wurde speziell bei der jüngeren Präfektengeneration noch ver-
stärkt. Aufgrund ihrer guten Schulleistungen fielen sie in der Grundschule ihren jeweiligen Religionsleh-
rern (und Gemeindepfarrern) auf. Als Mitglied des Stifts waren diese auch im Sinne der Belegung und
der Nachwuchsgewinnung daran interessiert, leistungsstarke Jungen für den Übertritt ins Stiftsgymnasi-
um einschließlich Konvent zu gewinnen. Für diesen Zweck setzten sie sich dann bei den Eltern ein. Bei
anderen gab es einen familiären Kontakt zu einzelnen Patres aus Kremsmünster, der dann die Entschei-
dung für den Schulbesuch (maßgeblich) beeinflusste.
Zumeist besteht familiär ein landwirtschaftlicher Hintergrund bzw. eine bäuerliche und katholische Tra-
dition. Vereinzelt wird auch berichtet, dass man im Grundschulalter in der Heimatgemeinde ministriert
hat und es in der Verwandtschaft Angehörige mit geistlichen Berufen gab. Ein Pater hat einen adeligen
Hintergrund und zwei kommen aus Arztfamilien. Mit dem Besuch des Stiftsgymnasiums war daher bei
etlichen die Hoffnung verbunden, diese geistig enge und harte bäuerliche Arbeitswelt hinter sich zu
lassen, intellektuelle Interessen auszubauen und sich neue Berufsbereiche erschließen zu können. Zu-
gleich wollten die Eltern ihren Kindern eine gute Schulausbildung ermöglichen.
Bei zwei Patres bestanden schon familiäre Verbindungen: Der Erste hatte Verwandte im Stift. Dadurch
war er schon vor seinem Eintritt zu Besuch dort und hat „Sympathien für das Haus“ entwickelt. Deswe-
gen hat er auch seine Eltern gebeten „dort hingehen zu dürfen“. Beim Zweiten haben schon der Vater,
ein Onkel und drei Urgroßonkel das Gymnasium in Kremsmünster besucht. Gleichzeitig habe es aber
kaum „Auswahlmöglichkeiten“ gegeben, so dass er die Familientradition fortsetzte. Ein Präfekt der jün-
geren Generation berichtete uns, dass es damals in der Gegend oft nur die Kombination Gymnasium mit
Internat gab. Ein anderes Internat, das näher an seinem Heimatort lag, habe einen schlechteren Ein-
druck gemacht. Daher hätten er und seine Eltern sich auch infolge der Empfehlung eines Altkremsmüns-
teres für Kremsmünster entschieden.
4.4.2 Eingewöhnung – Vorbemerkungen
Bevor auf die Eingewöhnung und Anpassung genauer eingegangen wird, ist erwähnenswert, dass fünf
der elf Präfekten das Gymnasium nicht ab der ersten Klasse besucht haben und nicht alle interne Kon-
viktsschüler waren.
Während drei der älteren Generation jeweils in der zweiten, dritten oder sechsten Klasse anfingen, ha-
ben zwei der jüngeren Generation ab der zweiten Klassenstufe begonnen. Dadurch wurden sie einer-
seits später vom Elternhaus getrennt, kamen somit etwas älter ins Internat und mussten nicht auf der
untersten Schülerhierarchieebene beginnen. Andererseits waren sie vor die Aufgabe gestellt, sich in
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eine schon bestehende Gruppe einzugliedern. Alle fünf meinten aber, dass ihnen dies keine allzu großen
Schwierigkeiten bereitete.
I: Andererseits haben Sie diese harte Anfangsphase, wo man jetzt ganz neu ist, und man ist
ja noch ganz klein und jung …
A: Na ja, mit fünfzehn ist man nicht mehr ganz klein.
I: Na, da ist man nicht mehr …
A: Ganz klein waren ja die Zehnjährigen.
I: Genau. Das haben Sie vermieden.
A: Hab’ ich Gott sei Dank vermeiden können, ja. Das wär’ wahrscheinlich doch sehr hart
gewesen. (Schüler 50er Jahre, Präfekt ab 70er Jahre)
Hart wäre es gewesen, weil er mit drei jüngeren Schwestern aufgewachsen ist, nicht gut Fußballspielen
und Skifahren konnte und damit nicht mit den Jungen, die mit „fünf Brüdern“ aufgewachsen sind, sport-
lich und mit der „Klappe“ mithalten hätte können. Auch wenn er es nicht anspricht, wäre er höchst-
wahrscheinlich auch in den körperlichen Auseinandersetzungen zunächst unterlegen gewesen.
Von den elf interviewten Präfekten waren acht interne und drei externe Konvikts-Schüler. Einer der Jün-
geren musste als Ortsansässiger nur tagsüber ins Konvikt, und zwei aus der älteren Generation wohnten
in Kosthäusern – einer nur zwei Jahre, der andere seine gesamte Schulzeit. In den Kosthäusern fanden
auch die Lernzeiten statt, so dass sie nur die Schulzeiten mit den Konviktsschülern gemeinsam verbrach-
ten. Dies wirkte sich besonders bei Pater Q. negativ aus.
4.4.3 Eingewöhnung – Fallbeispiel Präfekt Q.
Bei Präfekt Q. besteht eine Kremsmünster-Familientradition. Genau wie sein Vater war er in einem
Kosthaus untergebracht. Allerdings war dies vor dem 2. Weltkrieg noch üblicher, während Präfekt Q. als
Einziger seiner Klasse und über seine gesamte Schulzeit dort untergebracht war. Dies erschwerte ihm
die Eingliederung in die Klassengemeinschaft massiv. Auch wenn der selbst eher gehemmt und schüch-
tern wirkende Präfekt Q. das ganze Interview bemüht war, selbsterlebte Gewalt zu verharmlosen, wird
doch ersichtlich, dass er die schwerste Eingewöhnung aller von uns interviewten Präfekten gehabt ha-
ben dürfte. Des Weiteren wird deutlich, dass sich die oftmals bestehende Spaltung zwischen Externen
und Internen für ihn besonders negativ ausgewirkt hat. So wurde er im ersten Jahr auf seinem Weg zum
Kosthaus mit Äpfeln beworfen und hat insgesamt „einiges mitgemacht“. Ihm blieb das Internat seine
gesamte Schulzeit „nicht ganz geheuer“. So fiel es ihm über fünf Jahre hinweg schwer, in die Klassenge-
meinschaft zu kommen. Hierzu trug wohl auch sein damaliges leichtes Stottern bei. Auch wenn er sich
im Interview dagegen ausspricht, ein Außenseiter gewesen zu sein, wird ersichtlich, dass er viel geärgert
wurde. Daraufhin wurde er vermutlich aufgrund der Dominanz seiner Mitschüler nicht gewalttätig, son-
dern hat vielmehr versucht, seinen Ärger zu unterdrücken und nicht darauf zu reagieren:
I: Und Sie sind also von den anderen ein bissl getratzt worden auch? Also das war …
A: Ja. Ja, das war – dann bin ich draufgekommen: Wenn ich mich nicht ärgere, gell?, wenn
man jemanden sekkiert, und der andere reagiert nicht, ist es für die anderen nicht mehr
lustig. Gell?
I: Dann wird’s langweilig.
A: Das hab‘ ich g’lernt. Ja?
Durch den Wechsel vom „ich“ zum „man“ stellt Präfekt Q. im Interview einen Abstand zur selbsterlitte-
nen Gewalt und zu seinen Peinigern her. Auf die nächste Frage nach der Stimmung unter den Schülern
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wird zwar die Schülerhierarchie angedeutet, doch die Gewalt ist nur noch zwischen den Zeilen zu erah-
nen und „verschwindet“ hinter der Normalität. Eine Vertiefung der Gewaltthematik wird durch die
Wendung zum Positiven und mit Hinweis auf die späteren Jahre vermieden:
I: Aber das heißt, da war schon eine – oder wie würden Sie dann die Stimmung so unter den
Schülern in der Zeit bezeichnen?
A: Ich war keiner von denen da oben. Aber so – ja, da war nachweislich, es war, ich glaub‘,
ganz normal, so wie … Sicher, es waren welche, denen war – mit denen hat man sich besser
verstanden, mit anderen weniger. Dann waren … Sehr gemischt und auch, wie g’sagt, ich
hab‘ mich schon, ich hab‘ mich wohlgefühlt.
I: Okay.
A: Und dann – überhaupt dann, je weiter man dann aufsteigt, gell?
I: Dann wird’s besser.
A: Dann wird’s – ja.
Präfekt Q. spricht keine Probleme mit der Tagesstruktur an. Er war ein guter Schüler und meint, durch
die „Professoren“ selbst keine Gewalt erlebt zu haben. Über seine Professoren spricht er vorwiegend
positiv. Fragen zur Gewaltanwendung im Unterricht ist er bemüht auszuweichen bzw. verneint sie ve-
hement. Er betont stattdessen, „viel gelernt zu haben“.
Durch die Exerzitien der siebten Klasse wird er stark „getroffen“. Ab da besuchte er zwanghaft Gottes-
dienste. Ebenso fing er an, einen geistlichen Lehrer, der später zum Abt gewählt wurde, zu idealisieren.
Dies war durch stärkste Gefühlsregung während des Interviews auch in der Gegenwart noch spürbar.
Inwieweit beides einen Ausgleich für die bis dahin fehlende Anerkennung in der Klassengemeinschaft
darstellt, kann nur vermutet, aber anhand des Interviews nicht zweifelsfrei beurteilt werden.
I: Und was wurde g’macht in den Exerzitien?
A: Ja, da waren Vorträge, Vormittag zwei und Nachmittag, und eben auch Gottesdienst.
Und dann hat man Lektüre bekommen, da hatte man nichts anderes zu lesen, sondern ein
geistliches, irgendein geistliches Buch. Ja. Ich hab‘ daneben in der sechsten Klasse, daneben
auch was anderes gelesen. Aber die in der siebten Klasse, die haben mich richtig getroffen,
und es war schad, dass in den Ferien, nach der sechsten Klasse Gymnasium, hat’s mich – es
hat mich so ge…, ich hab‘ mich jeden Tag, ich musste jeden Tag die Messe mitfeiern, es hat
mich so getrieben, ich hab‘ gar nicht anders können, gell? Dann war die siebte Klass‘, da bin
ich auch jeden Tag gegangen, in die Messe, gell? Aber ganz (?) Und dann, in der achten
Klasse – ja, da in der siebten Klasse waren wir auch in Rom. Von der Vierten bis zur Achten
hatten wir nicht mehr die gleichen Professoren, vielleicht irgendeinen, den (weltlicher Na-
me), und dann den Pater Z., den späteren Abt. Der (?) über alles.
I: Der muss ja auch, zwar sehr streng g’wesen sein, aber der muss ja auch …
A: Ja, ja, ja, ja, aber er hat uns unwahrscheinlich viel vermittelt.
I: Was heißt das: „viel vermittelt“? Jetzt so an Spiritualität?
A: Das waren andere, nicht nur – also am … Wir haben zum Beispiel in Griechisch auch die
Paulus-Briefe gelesen, die Art, gell? Und so. Er hat uns da – und auch was, auch kunstge-
schichtlich und so. Der ist ja unwahrscheinlich … Und wir da, wir …
I: Ich sehe, das berührt Sie noch sehr, wenn Sie über ihn sprechen.
A: Ja.
I: Das ergreift Sie ja richtig noch.
A: Das ist Dankbarkeit.
Bei der Entscheidung für den Eintritt ins Kloster hatte dann dieser Lehrer, der unmittelbar vor Q.s Novi-
ziat zum Abt gewählt wurde, großen Einfluss.
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4.4.4 Eingewöhnung
Auch wenn einige der interviewten Präfekten auch Kritisches zur Eingewöhnung äußerten, hatten sie die
Tendenz, dies nicht allzu sehr zu vertiefen und als Ausgleich auf Positives zu verweisen. Im folgenden
Zitat fällt es Pater Ü., der zur Generation der älteren Präfekten gehört, schwer, die richtigen Worte zu
finden. Erst im dritten Anlauf kann er aussprechen, dass er am Anfang nicht glücklich war. Ob er zuerst
an etwas anderes gedacht hat, was er nicht aussprechen wollte, bleibt unklar, und im weiteren Inter-
viewverlauf hilft der Interviewer:
I: Können Sie sich noch erinnern, wie das damals war für Sie, dass Sie hierher gekommen
sind und wie Sie hierher gekommen sind?
A: Na ja, ich hab‘ mich natürlich schon ein bissl … ned? Es war halt … Also ich war nicht sehr
glücklich am Anfang, ned.
I: War das ein Unterschied zu (Ort)?
A: Ja, weil in (Ort) war’s ja keine …
I: … keine Klosterschule? Oder?
A: Keine Klosterschule, ja. Und gewohnt hab‘ ich privat in einem kleinen Pensionat, wo also
zwölf Gleichaltrige waren.
I: So ungefähr gleichaltrig. Aber Sie hatten eine Trennung zwischen Schule und Freizeit und
…
A: Ja.
I: … und privat. Und das fiel dann hier in Kremsmünster weg, oder? Sie haben ja gesagt, die
waren strenger hier, oder?
A: Na ja, natürlich strenger insofern gegenüber dem, was die Familie verlangt hat, nicht?
(Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
Klar wird, dass die Klosterschule, die größere altersgemischte Gruppe in der Konvikts-Abteilung, die Ver-
bindung von Schule und Konvikt sowie die größere Strenge dazu beigetragen haben, dass er sich am
Anfang nicht sehr glücklich fühlte. Unklar bleibt, was die Strenge der Klosterschule ausgemacht hat und
welche Rolle die Gewalt dabei hatte.
Ein anderer aus der älteren Präfektengruppe berichtet, dass es nach dem Krieg eine „karge Zeit“ gewe-
sen sei. So sei die Heizung öfter ausgefallen oder habe es nicht genug zum Essen gegeben. Allerdings
habe seine Generation mehr „Durchhaltevermögen“ gehabt, sei mehr „gewöhnt“ gewesen, habe mehr
„ertragen“ und wäre insgesamt „härter“ gewesen als die späteren Generationen.27
27 Diese Behauptung dient auch zur Verharmlosung der selbst ausgeübten Gewalt.
Pater Q. meinte, dass er als Klassenbester nie Schwierigkeiten gehabt habe, und Pater Ä., der erst ab der
3. Klasse in Kremsmünster war, stellt fest, dass er gerne hier war, er leicht gelernt habe und dadurch
schnell in die Klassengemeinschaft aufgenommen wurde, da er anderen beim Lernen helfen konnte.
Bei der jüngeren Präfektengeneration spricht einer „spaßhalber“ vom „Kulturschock“ aufgrund der gro-
ßen geschlechtshomogenen Klasse mit 48 Jungen in Vergleich zur gemischtgeschlechtlichen Klasse mit
24 Jungen bzw. Mädchen. Da er von der ersten Klasse Hauptschule in die zweite Klasse Gymnasium ein-
gestiegen sei, „hieß es einmal fleißig sein“, was ihm aber nicht wirklich schwer gefallen sei. Dann be-
merkt er: „Aber da neu Fuß zu fassen, das war eine interessante Sache“. Was dies genau bedeutet, wur-
de nicht vertieft. Auf die eher skeptische gestellte Frage zum Tagesablauf folgt dann Positives:
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I: Aber der Tagesablauf, der vollkommen durchstrukturiert war – und vorher, denk‘ ich, ha-
ben Sie ein paar Freiheiten gehabt, den Nachmittag selber zu gestalten, und jetzt auf einmal
war alles doch in einem sehr geregelten Ablauf. Gut oder weniger gut für Sie?
A: Nein, das war für mich nicht negativ besetzt. Es hat mir einfach viele interessante Mög-
lichkeiten geboten hier, einfach die Infrastruktur da im Haus, das hat mir eigentlich getaugt;
das erste Mal einen g’scheiten Turnsaal sehen und, ja, alles, was also hier den Schülern ge-
boten worden ist, das war für mich beeindruckend.
I: Ist ja auch ein tolles Ambiente hier, das ganze Gebäude und …
A: … das Gebäude, Spielgefährten haben … Das war natürlich anders als zu Hause in der
Dorfgemeinschaft, das war – obwohl das eine tolle Zeit gewesen ist. (Schüler 70er Jahre,
Präfekt ab 80er Jahre)
Auch ein weiterer Präfekt der jungen Generation verwendet das Wort „Schock“. So war es ein Schock, in
der Anfangszeit nicht raus zu dürfen. Obwohl er sich überall schnell eingewöhnen könne, habe ihn das
militärische System, das bei seiner Beschreibung des Tagesablaufes erkennbar wird, länger gestört:
„ (…) Natürlich gab’s Dinge, die mich sehr gestört haben. Ich war zum Beispiel überhaupt
nicht militärisch erzogen, aber das System war sehr militärisch. Um viertel nach sechs –
nein, fünf nach sechs … Also kurz nach sechs jedenfalls war der Morgenappell, und dann so-
fort raus aus den Betten. Wobei es im Schlafsaal saukalt war, die Fenster waren sogar im
Winter offen. Und dann auf den Boden, Morgensport, dann zum Waschen – das war eine
einzige Rinne mit Wasserhähnen. Da sind alle nebeneinander g’wesen, und dann, ja, wa-
schen, schnell, schnell, halb sieben waren wir schon fertig, Morgengebet, Morgenstudium –
das war also schon eher ein brutales System. Das hat mich schon länger g’stört, das weiß
ich heut‘ noch. Bis man sich an so was auch gewöhnt. Mein Glück war ganz sicher, dass ich
immer Präfekten g’habt hab‘, die an sich sehr menschlich waren und auch frei von so Über-
griffen, über die wir dann reden. Das eine war der Pater Ü. am Beginn, und die letzten fünf
Jahre der Pater Y., und die waren völlig okay.“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Trotz seiner Anpassungsfähigkeit und seiner menschlichen Präfekten, hat er länger gebraucht um sich an
das militärische System mit seiner Kälte und Tagesstruktur zu gewöhnen. Die fehlende Privatheit habe
ihn damals nicht gestört. Positiv waren für ihn, dass er Musiker war und sein Hobby aus Lesen und
Schreiben bestand. Daher habe er auch die ganze Bibliothek von „vorne bis hinten ausgelesen“. Bei den
anderen jüngeren Präfekten fallen kaum kritische Worte zur Eingewöhnung. Einer stellt sogar fest, dass
er sich von Anfang an „eigentlich wohlgefühlt“ habe, wobei er dann im Sprachfluss ins Stocken kommt
und seine Bemerkung relativiert, dass man das „auch mit heutiger Zeit nicht vergleichen“ darf. Zusätz-
lich liefert er an dieser Stelle ein Argument für das Schweigen der ehemaligen Schüler28:
28 Dies ist ein Hinweis zum Schweigen der Schüler, entlastet aber nicht das Schweigen der Präfekten.
A: (…) „Ich hab‘ mich von Anfang an eigentlich wohlgefühlt, ja, kann eigentlich da nur … Also
… Ich mein‘, was natürlich, ich mein‘, was war, aber das war einfach auch, das darf man
auch mit heutiger Zeit nicht vergleichen, find‘ ich: Vom Elternhaus her natürlich war immer
so eine gewisse Ding: Ja, also du gehst da in die Schule und – so nach dem Motto: Dass wir
nichts hören! Also …
I: Keine Probleme machen.
A: Keine Probleme, dass disziplinär alles in Ordnung ist, so in die Richtung. Gerade in dieser
Sache haben wir jetzt die ganze Sache, was dann da alles aufgekommen ist, glaub‘ ich, hat
das sicher auch – aber das ist zeitlich bedingt, das ist heute natürlich Gott sei Dank viel an-
ders –, dass, glaub‘ ich, dann auch Dinge nicht, ja, ausgesprochen wurden, weil da vielleicht
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vom Elternhaus her ein gewisser, ich will nicht sagen Druck, aber eine gewisse Erwartungs-
haltung da war. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Heimweh wird nur von wenigen angesprochen und scheint in der Erinnerung keine große Belastung
gewesen zu sein. Die Einordnung in die Gewaltstrukturen, in die unterschiedlichen Gruppen (Klasse und
Schülerschaft, Konvikts-Abteilung und -„Gemeinschaft“) und in die Zeit- und Tagesstruktur wird, wenn
überhaupt, vorwiegend am Anfang bewusst als störend empfunden. Im weiteren Verlauf findet eine
Gewöhnung an die damit einhergehenden psychischen und körperlichen Anstrengungen bzw. Leiden
und den damit einhergehenden Verlust von selbstbestimmter Zeit, von Rückzugsmöglichkeiten und Pri-
vatheit statt. Die Umstände und die sie begleitenden Gefühle werden normal. Die damit einhergehen-
den belastenden Gedanken und emotionalen Empfindungen der Anfangszeit werden größtenteils ver-
gessen oder durch intrapsychische Abwehrmechanismen aus dem Bewusstsein verdrängt29.
29 Durch die Abwehrmechanismen sollen gefährdende, konflikthafte innere sowie überfordernde äußere Reize so
modifiziert, eingeschränkt oder unterdrückt werden, dass sie dem Bewusstsein nur soweit zugänglich sind, wie sie
die Integrität und die Konstanz des bio-psycho-sozialen Gleichgewichts eines Menschen nicht gefährden. Abwehr-
vorgänge haben einen Einfluss auf psychischen Funktionen (Bewusstsein, Phantasien, Gedächtnis, Kognition, Ge-
fühle, Wünsche, Handlungsimpulse), auf die psychische Struktur und auf körperliche Regulationsprozesse (vgl.
Ehlers 2000, S. 12).
4.4.5 Hohe Anpassungs- und schulische Leistungsfähigkeit
Es zeigt sich, dass alle eine hohe Fähigkeit zur Anpassung an die vorgegebenen Rahmenbedingungen
und an das bestehenden Erziehungs- und Bildungssystem mit seiner Gewalt- und Selektionspädagogik
entwickelten. Von zwei Präfekten der jüngeren Generation wird jeweils die hierzu passende Selbstbe-
schreibung abgegeben. Inwieweit sie die erwähnten Persönlichkeitseigenschaften bzw. Fähigkeiten
schon mitgebracht haben oder erst verstärkt durch die Internats-Sozialisation herausgebildet haben
bzw. herausbilden mussten, bleibt offen. Aufgrund der herrschenden Erziehungsvorstellungen ist aber
davon auszugehen, dass die Anpassungsfähigkeit stärker gefördert wurde als die Autonomieentwick-
lung.
„Ich glaub’, dass ich eher ein Typ bin, der sich leicht anpasst und der sich da einfach einge-
fügt hat und das mitgemacht hat.“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 2000er Jahre)
„Ja. Also wahrscheinlich kommt mir entgegen, dass ich mich überall relativ schnell einge-
wöhnen kann. Also ich kann so mit den Dingen umgehen, die da daherkommen – nach wie
vor, damals auch.“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt 80er Jahre)
Speziell im schulischen Bereich gelang es den von uns interviewten Präfekten, die bestehenden Leis-
tungsanforderungen erfolgreich zu erfüllen. Viele berichteten, dass sie mit dem Lernen keine Probleme
gehabt hätten bzw. es ihnen von Anfang an leicht gefallen sei. Anderen gelang es wiederum, ihre Schul-
leistung zu steigern. So berichtet ein Präfekt, dass er vorher schulisch „mittelmäßig“ und nicht so eifrig
gewesen sei, aber ab dem Moment, als er kapiert habe, dass es „sehr günstig“ sei, man geehrt werde
und es Vorteile bringe, habe er ab der zweiten Klasse zu den Besten gehört. Bei einem anderen „funkti-
onierten“ die aus heutiger Sicht unakzeptablen Gewaltmethoden und die Angstpädagogik seines zwei-
ten Präfekten. Dadurch entging er auch der unmittelbaren Gewaltanwendung, aber nicht dem Bedro-
hungsszenario. Die Brutalität, zu der Pater V. vorwiegend bei Leistungsversagen, Disziplin- und Respekt-
losigkeit fähig war, wird im folgenden Zitat nur ansatzweise ersichtlich. Gleichzeitig zeigt es, wie schwer
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es dem interviewten ehemaligen Präfekten fällt, über die Gewalt bzw. Angst zu sprechen, und es ihm
angenehmer ist, über die für ihn positiven Effekte zu reden:
A: (…) Aber jetzt nicht, dass er (erster Präfekt, d. V.) verantwortlich oder mitverantwortlich
sei für den Schulerfolg. Also das hätt’ ich nicht mitgekriegt. Das war dann beim nächsten
Präfekten, dem Pater V., dritte, vierte Klass’, anders. Also der hat uns ziemlich die Hölle
heiß gemacht, Latein ist dazugekommen, er war Lateinlehrer. Da hat’s zusätzliches Latein-
training gegeben, also – XV hat er geheißen oder heißt er noch –, das war für uns einfach
spitznamenmäßig das KZ, ja: (Name des Präfekten, d. V.) Zuchthaus.
I: Heftig.
A: Ja, schon. Aber es – es war so, ja?
I: Wie hat er reagiert wenn Sie nicht so gut funktioniert haben, wie er das sich erwartet hat?
Und seine Lehrversuche …
A: Der V.?
I: Ja. Hat er mal zugeschlagen?
A: Der V. schon, ja, freilich. Am Ohr gezogen und da hinten an den feinen Härchen gezogen,
lauter so Sachen. Aber ich mein’, das hat bei mir eher den Effekt gehabt, dass ich einfach
eher versuch’, seinen hohen Erwartungen zu entsprechen. Also bei mir hat das Modell ei-
gentlich, muss ich sagen, funktioniert. Ja.
I: Also ein bisschen über Angst, oder? Man hat ja Angst, dass man …
A: Ja, ja, vor dem haben wir schon Angst gehabt. Also ich bin in der dritten Klass’ eigentlich
vom Ultimus wirklich den entscheidenden Schritt weggekommen.
I: Und das hat etwas mit ihm zu tun auch?
A: Ich denk’ schon, ja. Weil also wirklich sehr eiserne Disziplin, also der hat Regeln im Studi-
um eingeführt, also … Nicht mal umdrehen oder so, ja? (Schüler 70er Jahre, Präfekt 90er
Jahre)
Etliche der von uns interviewten Präfekten gehörten zu den Leistungsbesten ihrer Klasse, die am Schul-
jahresende in der Abschlussfeier geehrt wurden. Damit gehören sie zu den „Gewinnern“ der Selektion
und Leistungshierarchie, die vorwiegend aus ihrer Leistungsfähigkeit, aus der damit einhergehenden
Anerkennung ihrer Lehrer, Präfekten und Eltern, aber möglicherweise auch aus der Abwertung der „Ver-
lierer“, ein hohes Selbstbewusstsein schöpfen konnten. Die Leistungsfähigkeit brachte somit auch posi-
tive Auswirkungen für ihr Verhältnis zu den Lehrern und Präfekten mit. Ebenso trug sie dazu bei, dass sie
sich im Gymnasium und im Konvikt wohlfühlten und gerne dort waren.
4.4.6 Beurteilung der Präfekten und Verinnerlichung des Erziehungssystems
Die Präfekten werden überwiegend positiv beurteilt. So sei man „recht gut gefahren“ mit ihm oder habe
man ihn in „guter Erinnerung“. Es wird erwähnt, dass man sich selbst nie ungerecht behandelt gefühlt
habe oder man selbst, da „nichts Ehrenrühriges angefallen“ sei, keine Schläge bekommen habe. Ebenso
sei der Spanische nur „in ganz schweren Fällen“ benutzt worden. Der eigene Präfekt wird mehrmals als
Vorbild bezeichnet, so sei er ein „großartiger Lehrer“ oder „recht gescheit“ gewesen. Ein Präfekt wird als
„recht liebevolle väterliche Figur“ beschrieben, ein anderer als konsequent und liebend mit großem
Wohlwollen. Dazu passend meint ein Interviewter „den hab ich gern gehabt zum Beispiel“. Ein Präfekt
der älteren Generation geht hierbei sogar so weit, dass er generalisierend für seinen gesamten Jahrgang
ausspricht: „Aber wir haben an sich unsere Präfekten geliebt.“ Mehrmals wird ein Verständnis für die
Strenge angesprochen, so habe es z. B. früher eine Konsequenz in der Erziehung gegeben. Da nicht alle
Präfekten gewalttätig waren bzw. die Präfekten im unterschiedlichen Ausmaß Gewalt anwendeten,
stellt ein Interviewpartner fest, dass er „Glück“ mit seinen Präfekten gehabt habe.
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Allein durch diese Verdichtung der Aussagen unserer Interviewpartner werden die Verinnerlichung des
Erziehungssystems und die Identifizierung mit den Präfekten bzw. deren Handlungsweisen ersichtlich.
Dass die Präfekten ungleich positive Eigenschaften hatten, soll hier nicht bestritten werden. Allerdings
fällt es unseren Interviewpartnern deutlich schwerer, deren negative Seite und ihre Gewaltanwendung
in den Fokus zu stellen. Eher wird die Gewalt unter den Schülern thematisiert, jedoch meist, ohne den
Einfluss der Präfekten zu berücksichtigen. Die ausgeübte Gewalt der Präfekten wird z. B. hinter den Be-
griffen Strenge und Konsequenz verborgen. Hierzu passend ein Zitat aus einem Interview mit einem
Präfekten der älteren Generation:
„Die Erziehungsmethoden waren die üblichen, also es war eine gewisse Konsequenz in der
Erziehung da, aber wir haben an sich unsere Präfekten geliebt. Und wir haben sie praktisch
nur danach beurteilt, ob jemand ungerecht behandelt wurde oder nicht.“ (Schüler 40er Jah-
re, Präfekt ab 60er Jahre)
Mit dem Wissen um die späteren Erziehungsmethoden dieser Präfekten wird erkennbar, dass das
Strafsystem wohl kritiklos übernommen wurde und die damaligen Präfekten nur anhand der Gerechtig-
keit der Strafe beurteilt wurden. Daneben gilt es festzustellen, dass die „üblichen“ Erziehungsmethoden
damals zwar weit verbreitet waren, aber es auch zu dieser Zeit alternative Erziehungsvorstellungen gab
und nicht überall mit konsequenter Gewaltanwendung erzogen wurde.
Der folgende Interviewabschnitt mit einem Präfekten der jüngeren Generation zeigt dessen Rechtferti-
gung der selbst miterlebten Erziehungsmethoden seines ersten Präfekten, seine diesbezügliche Verin-
nerlichung und seine fehlenden pädagogischen Alternativen. Ebenso wird deutlich, dass die positive
Erinnerung überwiegt:
I: Sie wissen bestimmt noch, wer das war.
A: Damals das erste Dienstjahr vom Pater X..
I: Aha … Und wie ist Ihre Erinnerung an diesen Präfekten?
A: Wenn ich’s jetzt so – also als erstes Wort würde mir einfallen: Gut. In guter Erinnerung.
Korrekt. Also ich hab‘ mich nie ungerecht behandelt gefühlt. Da hat man erlebt, dass der
auch streng sein muss, er muss diese Truppe irgendwie zusammenhalten …
I: Das ist ja ein ganz schöner Haufen, der da diszipliniert werden muss.
A: Ja.
I: Also einen guten Eindruck. War er auch irgendwann Ihr Lehrer?
A: Ja, in der Oberstufe war er dann mein Deutschlehrer. Ein großartiger Lehrer.
I: Also … Weil Pater X. wird ja nicht nur positiv bewertet, aber für Sie war er eine wichtige,
positive …
A: Ich hab‘ sehr wohl also mitbekommen, dass er dann, wenn es dann im Schlafsaal nach
dem Lichtabdrehen nicht ruhig war, dass er dann noch mal hereingekommen ist und da …
I: … für Ruhe gesorgt hat.
A: … lauter geworden ist oder dass es da mal eine Watsche gegeben hat, ja? Das hab‘ ich
mitbekommen, aber das … Aha, ja, das ist so, wenn jemand die Ruhe, die Nachtruhe stört.
War irgendwie logisch. Was soll er sonst – was soll er machen? Wenn er sagt, bitte, seid ru-
hig, das wird also zu wenig sein bei Zwölfjährigen, oder? (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab
80er Jahre)
Aufgrund der hohen Anpassungs- und Leistungsfähigkeit bzw. -bereitschaft haben die interviewten Prä-
fekten von ihren eigenen Präfekten und Lehrern Anerkennung erhalten. Als „brave Schüler“ hatten sie
positive bzw. weniger belastete Beziehungen zur ihren Präfekten und Lehrern. Dadurch haben sie sicher-
lich weniger unmittelbare Gewalt erlebt als die „bösen“ und/oder „leistungsschwachen“ Zöglinge, die
zum Ziel der gewalttätigen Erziehungs- , Leistungs- und Disziplinierungsbemühungen und der Ausschlie-
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ßungen in Gymnasium und Konvikt wurden. Dadurch mussten sie geringfügigere Leiden ertragen, und
gleichzeitig erlebten sie durch die ihnen entgegengebrachte Anerkennung angenehme Gefühle. Dies
dürfte ihnen auch erleichtert haben, ihre unangenehmen Gefühle zu „vergessen“ bzw. abzuwehren und
eine positive Beziehung zu ihren Präfekten, Lehrern und zum Stift als Ganzes aufzubauen. Durch ihr reli-
giöses bzw. geistliches Interesse hat sich diese Dynamik zusätzlich verstärkt.
Da die Präfekten im unterschiedlichen Ausmaß gewalttätig waren, war es speziell am Anfang „Glück“,
welchen Präfekten man zugeteilt wurde. Später wurden dann die „Bösen“ bevorzugt den „strengen“
Präfekten zugeteilt.
I: Also das heißt dann schon sehr: Man war so gesehen dem Schicksal ausgeliefert, in wel-
che Abteilung man gekommen ist …
A: Genau. Das war ganz entscheidend.
I: … und wie dann halt derjenige Präfekt mit den Zöglingen umgegangen ist.
A: Genau. Genau. Ganz entscheidende Frage. Und es war uns auch immer bewusst als Schü-
ler, dass wir den besseren Teil erwählt haben. Es ist auch viel geredet worden drüber.
(Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
4.4.7 Weitergabe der Gewalt – Fallbeispiel Präfekt V.
Da es in allen Interviews eher die Ausnahme war, das ehemalige Schüler nachdrücklich über die als
Schüler selbst ausgeübte Gewalt sprachen, verwundert es nicht, dass bei den befragten ehemaligen
Präfekten nur einer der jüngeren Generation über seine Gewaltausübung in der Schülerzeit von sich aus
auf die Frage nach dem Leben in der Horde berichtet.
Präfekt V. berichtet, dass in seiner Schülerzeit in den ersten beiden Klassen „vor allem die Interaktion
mit den älteren Schülern“ der Klasse über ihnen schwierig gewesen sei. Darunter seien „echte Sadisten“
gewesen, die „uns Kleine gern gequält haben“ ohne dass man sich wehren habe können (auflauern,
erschrecken, schlagen, in Papierkörbe stecken, im Studium mit Zirkeln „wo hinten“ reinstechen). Besser
sei die Situation für ihn geworden, als er gelernt habe, sich zu verteidigen:
I: Und wie war das für Sie, so dieses Leben in der Horde, ohne Privatheit?
A: Ja, das ist das Komische, dass es mich kaum gestört hat zu diesem Zeitpunkt. Ich hab‘
mich da relativ schnell eingefunden. Ich hab‘ gelernt, mich zu verteidigen. Ich weiß heut‘
noch, wie ich stolz drauf war, dass ich irgendwie auf einen Schlag gekommen bin, so mit
dem Knie gegen den Oberschenkel, dass ich jeden Größeren mit einem Schlag gelegt hab‘,
und dann war’s vorbei …
I: Pferdekuss nennt man das, glaub‘ ich.
A: Ja, wahrscheinlich. Ich weiß bloß, dass das funktioniert hat, und ich war stolz drauf, weil
es immer geholfen hat. Ab dem Moment war es vorbei mit allen Problemen in der Richtung.
Ich glaub‘, ich hab‘ mich auch bis zu einem gewissen Grad angepasst, weil ich hab‘ in der
Zweiten größere Probleme g’habt mit dem Präfekten, weil ich selbst so gewalttätig gewor-
den bin. Das hat er dann wieder beruhigt. Dann war’s wieder aus.
I: Haben Sie da für sich eine Erklärung?
A: Keine Ahnung. Ich glaub‘, das war – ich hab’s eben gelernt, wie das funktioniert, von den
anderen, nehm‘ ich einmal an.
I: Also das heißt, es war da schon von den – Sie haben es ja schon ein bissl beschrieben –,
von den Stärkeren, also von den etwas Größeren …
A: Der Stärkere hat natürlich regiert. Sonst – wer will schon nicht regieren?
Bericht Stift Kremsmünster
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Beim schnellen Einfinden in die Gruppe war es also hilfreich, sich wehren zu können, was als deutliches
Zeichen für die aggressive und gewalttätige Gruppendynamik anzusehen ist. Unklar bleibt, ob sich seine
übernommene Gewalt auch gegen Jüngere gerichtet hat. Hier wird der gewaltmindernde Einfluss seines
ersten Präfekten angesprochen, der positiv beschrieben wird und gegen den es keine Gewaltvorwürfe
gibt. Dies stellt einen Kontrast zu dem oftmals gewaltfördernden Verhalten anderer Präfekten dar. Als
Beispiel für seinen Wunsch nach einer mächtigen Position und Anerkennung führt Präfekt V. an, dass er
im dritten Jahr enttäuscht gewesen sei, dass er nicht als Senior ausgewählt wurde. Deswegen habe er
sich selbst zum Senior ernannt. Dies sehe er als Zeichen, dass er gelernt habe, sich durchzusetzen. Im
folgenden Interviewabschnitt werden dann noch die Lust an der Macht und fehlende Förderung der
Empathie im Erziehungsalltag thematisiert:
A: Wenn er (der Präfekt, d. V.) nicht da war, dann hab‘ ich halt einfach durchgegriffen, so,
also ob ich Senior wäre. Und zwei, drei Monate drauf bin ich dann schon mit eingeladen
worden zu den Essen der Senioren und all diesen Dingen. Also es hat schon funktioniert im
System.
I: Und noch mal: Wie waren Sie dann als Senior?
A: Ich glaub‘, ich war nicht nett. Ich hab‘ tatsächlich durchgegriffen.
I: Und „durchgegriffen“ heißt?
A: Das hat zum Beispiel geheißen, dass ich da halt, wenn der Präfekt nicht da war, so durch
die Reihen marschiert bin, g’schaut, ob wer studiert, wenn er’s nicht getan hat, dass ich ihm
vielleicht eine mit einem Buch auf den Kopf gegeben hab‘ oder solche Dinge, also durchaus
sehr problematische Maßnahmen.
I: Und das ist ja was, was einem so gesehen auch gefallen kann.
A: Ja, ohne Zweifel.
I: Also wo man auch so eine Lust an der Macht entwickeln kann.
A: Ja, ja. Ganz sicher, ganz sicher. Ich glaub‘, so kommt’s ja auch, dass man das gern tun will.
Weil dann ist man wer in dieser Gruppe.
I: Fällt mir natürlich als Gegenpol die Empathie ein. Wie würden Sie das einschätzen: empa-
thische Schulung im Kloster?
A: Also ich glaub‘, im Internat hat’s so was praktisch nicht gegeben. Da ist es wirklich nur
drum gegangen: überleben, anpassen, besser sein. Andere Kategorien fallen mir da eigent-
lich kaum ein. Sicher hat’s so was wie religiöse Motivation gegeben, aber das war alles
mehr nach innen gerichtet, und da ist es dann auch drum gegangen, mit den Schwierigkei-
ten fertigzuwerden oder, weiß ich nicht, brav und gehorsam zu sein oder so irgendwie in
diese Richtung letztlich.
4.5 Sozialisation der Präfekten – Der Weg zum Präfekten
4.5.1 Ausgangslage
Alle geistlichen Präfekten haben, wie der Großteil der Mitglieder des Konvents, das Stiftsgymnasium in
Verbindung mit dem Konvikt besucht. Die interviewten geistlichen Präfekten sind zumeist direkt im An-
schluss an die Matura ins Stift eingetreten und haben dort ihr Noviziat begonnen. Durch den Eintritt ins
Kloster haben sie sich für eine geistliche Berufslaufbahn entschieden und die Verpflichtung übernom-
men, in den Aufgabenbereichen des Stifts tätig zu werden. Von allen Maturanten wurde erwartet, dass
sie möglichst zügig katholische Theologie für das Priesteramt studieren. Hierfür wurden sie ab Beginn
des Noviziats vorbereitet. Alle späteren Präfekten haben daher zuerst katholische Theologie (in Priester-
seminaren) an unterschiedlichen Orten (z. B. Salzburg, Linz, Rom) studiert.
IPP 2015
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4.5.2 Personalauswahl und -einsatzplanung
Die Entscheidung für den Aufgabenbereich nach dem Priesterstudium traf dann letzten Endes der Abt in
Absprache mit dem Mönch. Hierzu gehören bzw. gehörten u. a. Pfarrseelsorge, Mission, Stiftsgymnasi-
um, Tagesheim bzw. Konvikt, Wissenschaft, Verwaltungs- bzw. Wirtschaftsbereich (Buchhaltung, Klos-
terladen, Forstwirtshaft etc.). Aufgrund des verlangten Gehorsams und des eingegangenen Gehorsam-
keitsgelübdes gab es je nach Führungsstil des Abtes kaum Möglichkeiten, die Übernahme einer Aufgabe
abzulehnen.
Nach unserem Wissenstand war die Personalauswahl und -einsatzplanung für das Konvikt eher kurzfris-
tig ausgerichtet. Bei Bedarf ging es vorwiegend darum, wer von den jüngeren Konventsmitgliedern ver-
fügbar und einigermaßen geeignet war. Und so kam es auch, dass die Aufgabe oft plötzlich und ohne
vorherige Vorbereitung übernommen werden musste. Die Frage der Eignungsüberprüfung scheint kein
großes Thema gewesen zu schein. Hierfür war die eigene Konviktserfahrung ausreichend. Es galt vorran-
gig, die freie Position zu besetzen. Der neue Präfekt war dann vor die Aufgabe gestellt, mit den Arbeits-
anforderungen und der zugewiesenen Abteilung zurechtzukommen. Dies umso mehr, wenn er die Auf-
gabe nicht aus eigenem Interesse übernahm und/oder lieber eine andere Altersstufe betreut hätte.
Im ungünstigsten Fall musste somit die Tätigkeit gegen den eigenen Willen begonnen bzw. ausgeführt
werden. Dies zeigt das folgende Interviewbeispiel, bei dem die Übernahme der Aufgabe bestimmt wur-
de. Im Erleben des Paters gab es damals wenig Platz für eigene Wünsche:
I: Haben Sie sich bewusst dafür entschieden, dass Sie in das Konvikt eintreten und da …
A: Naa! Naa, naa, naa, naa …
I: Nicht?
A: Des ist bestimmt worden.
I: Von wem?
A: Ja, von der Leitung, vom Abt und so. Ja, und da gibt’s gewisse Gremien, nicht? Und dann
der Gymnasialdirektor und so.
I: Und die haben dann irgendwann gesagt: Pater J., Sie gehen jetzt in das Konvikt und sind
dort für die Schüler zuständig?
A: Ja, ja, ja, ja.
I: Und Sie waren da nicht so begeistert von der Aufgabe?
A: Naa. Das kann ich nicht behaupten. Hahaha! Das kann ich nicht behaupten.
I: Und Sie haben da aber nicht die Möglichkeit g’habt zu sagen: Eigentlich will ich das gar
nicht?
A: Na ja! Die Möglichkeit, das zu sagen, hätt‘ ich schon gehabt, aber hätte nichts genützt,
nicht? Wenn jeder da seine Wünsche da … Das … (Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
Bei einem Präfekten, der kein Interesse an der Tätigkeit hatte, der sich gezwungen fühlte, die Aufgabe
gegen seinen Willen ohne Berücksichtigung seiner Wünsche und aus Verpflichtung gegenüber dem Stift
und den Abt zu übernehmen, lagen sicherlich keine guten Startbedingungen vor. Wenn es ihm nicht im
Laufe der Zeit gelang, Interesse oder sogar Freude an der Arbeit zu entwickeln oder das Arbeitsgebiet
bald zu wechseln, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass seine Erziehungstätigkeit aus diesem
Grund von vielen negativen Emotionen, inneren Kämpfen, Widerstand und Widerwillen begleitet war.
All dies hatte primär nichts mit dem Verhalten der Schüler zu tun und belastete gleichzeitig die Bezie-
hung zu ihnen. Auch wenn dieser psychische Prozess nicht dazu führen musste, dass es zur Gewaltan-
wendung kam, bestand die Gefahr, dass die damit einhergehende Aggression, deren Quelle in der (un-
passenden) Unterordnung unter die Autorität der Vorgesetzen bzw. des Abtes lag, sich gegen die
Schwächeren (Schüler, schwächere Kollegen) im Umfeld richtete.
Bericht Stift Kremsmünster
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Nicht bei allen von uns interviewten Präfekten wurde die Aufgabe gegen den eigenen Willen bestimmt.
Im gesamten Untersuchungszeitraum scheint aber eher selten vorgekommen zu sein, dass ein Pater die
Aufgabe im Konvikt aus eigenem Interesse oder sogar aus eigener Motivation übernommen hat. So gibt
es z. B. einen Pater, der in einer Pfarrei, die nicht zum Pfarrgebiet des Klosters gehörte, gerne in der
Jugendarbeit aktiv war. Dies hat aus seiner Sicht dazu geführt, dass der damalige Konviktsdirektor den
Abt den gearbeitet hat, wäre er lieber in der Pfarrei geblieben, anstatt im Stift als Präfekt zu arbeiten.
Anhand von zwei zusätzlichen Interviewabschnitten soll ein weiterer Einblick in die Personalauswahl
vermittelt werden. Aus den gesamten Interviews wird ersichtlich, dass keine Eignungsüberprüfung statt-
fand. Beim zweiten Interviewbeispiel stellt der Abt deutlich die Weichen. Pater X. konnte sich aber die
Konviktslaufbahn vorstellen. Gleichwohl sind die Autorität des Abtes und die Anpassung des Paters zu
erkennen:
„ (…) Es ist bei uns so – oder war lange Zeit so, also ich war noch in der Generation: Man
macht halt nach dem Studium ein bissl – pardon, das Theologiestudium, und zwar möglichst
in der Mindeststudienzeit, wird geweiht, und dann entscheidet sich, ob man die Pfarrpasto-
ral kommt oder doch bei uns in den Schulbereich. So. Und dann fragt mich der Abt, ob es
mir was ausmacht, wenn ich das sogenannte Pastoral, was eigentlich ausbildungsmäßig
vorgesehen ist, im Konvikt mach‘, weil er auch einen Präfekten braucht. Fertig. Ja? Und
damit ist das Pastoraljahr flachgefallen. Und wenn man schon im Internat arbeitet, dann
kann man ja auch an den Vormittagen, wo die Schüler ja eh weg sind aus dem Konvikt, weil
sie in der Schul‘ sind, kann man ja ein bissl unterrichten auch. So bin ich eing’stiegen als Re-
ligionslehrer ins Gymnasium, eh nur für ein Jahr. Geworden sind’s dann drei Jahr‘. Und
dann war aber die Weiche eigentlich g’stellt. Ich hab‘ von mir aus g’sagt – der Abt hat
g’fragt: Du, möchtest du mehr in die Pfarrseelsorge oder das? Sag‘ ich – wenn ich mir das in
den Kopf setz‘, Pfarrseelsorge, dann hätte ich ja Priester auch werden können, wenn ich mir
in den Kopf setz‘, ja unbedingt Gymnasiallehrer, dann hätt‘ ich wahrscheinlich als Laie stu-
diert und wär‘ nicht in ein Kloster eingetreten. Ich kann mir beides vorstellen. Ja, und so ist
die Schiene dann in Richtung Schule gegangen. Und also nach drei Jahren konnt‘ ich dann
freigestellt werden und hab‘ dann in Wien Geschichte studiert. Und nach drei Jahren bin ich
dann wieder eingestiegen, und seither …“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Im dritten Interviewbeispiel war es für Pater Y. nach dem Theologiestudium schwer vorstellbar, als Pfar-
rer oder Kaplan zu arbeiten. Es scheint, dass er für diesen Schritt noch zu unsicher war. Im Konvikt wur-
den aber zur gleichen Zeit drei Präfektenstellen frei, so dass er Präfekt geworden ist. Aufgrund der In-
formationen aus dem Interview ist davon auszugehen, ohne dass er dies vorher selbst angestrebt hatte.
Da mehrere Abteilungen gleichzeitig zu besetzen waren, bestand ausnahmsweise eine Wahlmöglichkeit.
Weil er während seiner Schulzeit im Kosthaus war, fehlte ihm die Konviktserfahrung. Dies führte wohl
dazu, dass er die „leichtere“ Aufgabe übernahm: die kleinere und privilegierte siebte Abteilung mit den
älteren und leistungsstärkeren Schüler mit geistlichen Interessen:
I: Gut. Sie werden ja dann langsam auch Präfekt.
A: Ja, dann war es so: Für mich war eine Frage da die Profess, vor der Profess, was ich jetzt
mit mir anfangen könnte. Ja? Das war eigentlich mein einziges Problem. Ich hätt‘ mir un-
möglich vorstellen können gleich hinaus dann auf eine Pfarrer oder so als Kaplan. Das hätt‘
ich mir nicht gut vorstellen können. Das war so, die Profess war 68 und dann 69 die Pries-
terweihe.
I: Und wieso Pfarre?
A: Wir waren mit dem Studium noch nicht ganz fertig, aber da war das, dass da drei nach
Brasilien geschickt wurden. Jedenfalls, wir sind geweiht worden und sind dann Präfekten
geworden. Und eben (…)
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I: Also Sie zusammen sind gemeinsam Präfekten geworden?
A: Ja, und da ist – und dann hatten wir immer, bei den Kleineren, Größeren. Bei den Größe-
ren kann ich’s mir eher vorstellen. Weil ich nie im Konvikt war nicht so, gell? (Schüler 50er
Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
An dieser Stelle ist es noch wichtig darauf hinzuweisen, dass es auch Patres gab, die für sie passend in
der Bildungs- und Erziehungsarbeit eingesetzt wurden. Gleichwohl sagt dies nichts über ihre Bereitschaft
zur Gewaltanwendung in der Erziehung bzw. Bildungsvermittlung aus. Zusätzlich gilt es zu bedenken,
dass Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern bzw. Heranwachsenden sich gezielt Arbeitsbereiche
und Institutionen aussuchen, in denen die Gefahr der Aufdeckung möglichst gering ist und somit der
sexuelle Missbrauch über längere Zeit ausgeübt werden kann. Bei den Patres war die Institution festge-
legt, bestenfalls konnte Einfluss auf den Arbeitsbereich und dessen Gestaltung genommen werden. Hier
bot das Konvikt eine Fülle von Kontaktmöglichkeiten zu männlichen Heranwachsenden ab neun/zehn
Jahren. Gleichzeitig waren das Stift und das Konvikt als geschlossene Institution u. a. mit seinen autoritä-
rer Leitungsstrukturen, mit seiner gewalttätigen Erziehungspraxis, mit seinen konzeptionellen Mängeln
über lange Zeit ein idealer Ort (vgl. Enders 2011, S. 386 ff; 2012; S. 132 ff.) für die gefahrlose Ausübung
von sexuellem Missbrauch, ohne entsprechende (juristische) Konsequenzen befürchten zu müssen.
4.5.3 Tätigkeitsbereich: Aufgaben, Anforderungen und Belastungen
Neben der Tätigkeit im Konvikt mussten noch weitere Aufgaben übernommen werden. Vorwiegend war
mit der Übernahme der Präfektentätigkeit auch eine eingeschränkte oder volle Lehrtätigkeit am Stifts-
gymnasium verbunden. Durch diese Kombination hatten die Präfekten/Lehrer zwei unmittelbare Vorge-
setzte, Konvikts- und Schuldirektor, und mussten deren Anforderungen erfüllen. Ebenso mussten sie
sich in die unterschiedlichen Teams integrieren. Als Alternativen kamen u. a. Religionsunterricht in der
Berufsschule oder Seelsorge in Altenheimen in Frage. Neben dieser Doppelbelastung wurden oder
mussten noch zusätzliche Aufgaben im Stift erledigen werden (Novizenmeister, Bibliothekar, Archivar
etc.).
Ohne entsprechende Zusatzausbildung konnte im privaten Gymnasium nur in der Unterstufe unterrich-
tet werden. Viele der interviewten Präfekten haben daher ein Zweitstudium für die Lehramtstätigkeit
absolviert z. B. Geschichte und Geografie, Geschichte und Germanistik, Anglistik und Germanistik, Ang-
listik und Geografie, Altphilologie. Die Wahl der Studienfächer richtete sich einerseits stark nach dem
Bedarf im Gymnasium, andererseits aber auch nach den Fähigkeiten (und Interessen) der Präfekten.
Zumeist wurde das Zweitstudium begonnen, nachdem sie schon einige Zeit bis ein paar Jahre als Präfekt
tätig waren, in seltenen Ausnahmen vor dem Beginn der Präfektentätigkeit. Hierfür wurden die Präfek-
ten normalerweise während des Großteils bzw. des gesamten Zweitstudiums freigestellt.
„Ich hab‘ begonnen als Präfekt, da war ich nur Präfekt, im ersten Jahr. Da hat’s dann gehei-
ßen: Wenn ich nur Präfekt bin, ich hab‘ ja bloß 45 Schüler, dann bin ich unterfordert … Die
hat sieben Tage, die Woche! Und dann könnte ich in die Berufsschule gehen, und da könnt‘
ich ins Altenheim gehen und noch ein paar so Dinge tagsüber. Und das war für mich keine
Perspektive, ich wollte weder in die Berufsschule noch ins Altenheim. Und dann hab‘ ich für
mich beschlossen, ich studiere etwas, dann kann ich aufs Gymnasium. Das war aber eigent-
lich nicht vorgesehen. Jetzt bin ich dann einfach auf die Uni, hab‘ mich inskribiert und
g’schaut, was sich zeitlich ausgeht; und bin damit dann zum Abt und hab‘ ihm g’sagt, ich bin
inskribiert, aber wenn er will, kann er mir’s verbieten. Und dann hat er g’sagt, okay, wenn
ich’s irgendwie aushalte, soll ich’s machen. Und so hab‘ ich dann zu studieren begonnen.
Dann war ich eben Präfekt und hab‘ nebenbei studiert, Latein, Griechisch, und irgendwann
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bin ich dann freig’stellt worden fürs Studium am Schluss.“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab
80er Jahre)
Mit dem geschickten Durchsetzen seiner beruflichen Interessen gegen die Vorgaben (des Abtes) stellt
dieser Präfekt eine absolute Ausnahme dar. Gleichwohl verweist dieses Zitat auf die enorme Arbeitsan-
forderungen und die dahinterstehende Leistungs- und Arbeitshaltung der Stiftsangehörigen, die in allen
Interviews erkennbar wird.
„Und es war damals sicher die Mentalität, dass es ganz normal ist, immer zu arbeiten.“
(Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Auch, wenn es die Präfekten in unterschiedlichem Ausmaß verstanden, sich Freiräume zu schaffen,
stand der Anspruch im Raum, sieben Tage rund um die Uhr für die Schüler da zu sein.
A: … und noch länger im Schuldienst, aber mit voller Lehrverpflichtung. Man hat praktisch,
Tag und Nacht hat man ja bei den Buben sein müssen. Wir hatten höchstens einen Tag sich
mal frei nehmen können. Sonst waren wir total eingespannt.
I: Also das war eine anstrengende Arbeit.
A: Eine irrsinnig anstrengende Arbeit. (Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
Abgesehen von ihren sonstigen Verpflichtungen und den Verpflichtungen in der Schule hatten die Prä-
fekten je nach Abteilungsgröße die alleinige Verantwortung für eine Gruppe von 20 bis 50 Heranwach-
senden. Neben der Gestaltung der Freizeit galt es, den Bildungserfolg sicherzustellen, die Disziplin auf-
recht zu erhalten und für Ruhe im Alltag bzw. für Silentium während der Lernzeiten zu sorgen. Zusätzlich
war es wichtig, die vom Stift getragenen Prinzipien und Werte zu vermitteln und einen reibungsglosen
Ablauf der vorgegebenen straffen Tagesstruktur von früh bis über die Schlafenszeit hinaus zu gewähr-
leisten. Kurz, die Abteilung hatte möglichst makellos zu funktionieren.
A: Ja, ja. Quasi über neunzig Pflichtstunden in einer Woche hab‘ ich …
I: Neunzig Arbeitsstunden?
A: Ja. Nicht, mit dem Präfekten. Ned? Volle Lehrverpflichtung …
I: Und wie schafft man so was?
A: Wenn man jung ist.
I: Na ja, aber da bleibt doch …
A: Ja, es war schon schwer, nicht.
I: … da bleibt doch nur noch ganz wenig Zeit übrig, oder, für einen selber?
A: Ja, also …
I: Oder fürs Beten oder …
A: Ich hab’s halt versucht. (…) war ja immer den Sport, man hat das gespielt, und es war
wirklich schwierig, da … dass man so irgendwie noch in der Zeit ist, wo die Buben Unterricht
haben oder was, dass ich die ein, zwei Stunden so was gehabt hab‘, nicht, das ist drin gewe-
sen.
I: Aber insgesamt war’s schon anstrengend, oder?
A: Ja, sicher. Halb sechs aufstehen, Buben wecken und so weiter …
I: Und wie viele Buben haben Sie da zu betreuen gehabt?
A: Na ja, ich hab‘, also Interne hab‘ ich einige dreißig immer gehabt, aber wir mussten also
auch die vom Ort zum Studium, also Nachmittag Aufgaben machen und beherbergen,
nicht? Und so hab‘ ich dann über vierzig …
I: Allein?
A: Da muss man sich schon ziemlich auf die Füße stellen, dass man diesen Haufen … (Schü-
ler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
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Insgesamt lässt sich mit Sicherheit feststellen, dass die Präfekten aufgrund ihrer Schulsozialisation hohe
Leistungsstandards verinnerlicht haben. Ebenso wurden im Rahmen ihrer Mönchs- und Priestersozialisa-
tion weiterhin hohe Leistungsanforderungen an sie gestellt. Wie aus den bisherigen Ausführungen er-
sichtlich wird, setzte sich dies mit der Übernahme der Präfektentätigkeit fort. Dieser verinnerlichte und
von der Umgebung geforderte hohe Leistungsstandard schafft in der alltäglichen Präfektenarbeit eine
hohe Leistungsbereitschaft und einen enormen Leistungsdruck. Dies sorgt aber auch dafür, Belastungs-
und Überforderungssituationen zu dulden bzw. auszuhalten, sich keine Unterstützung zu holen und die
Belastungsfaktoren nicht anzusprechen; dies umso mehr, je stärker Leistung erwartet wird, das Selbst-
wertgefühl mit der Leistungsfähigkeit gekoppelt ist und, je weniger Bereitschaft der Umgebung besteht,
auf Überforderung Rücksicht zu nehmen.
I: Und deswegen meine Frage: Ob Sie manchmal das Gefühl gehabt haben: Ich bin jetzt sehr
überfordert und weiß eigentlich auch nicht mehr, was ich tun soll. Ob Sie sich an so was er-
innern können, an so ein Gefühl?
A: Na ja … Das hätte wahrscheinlich nichts genützt. Ja, was fällt dir, was bildest du dir jetzt
ein? Wer soll’s machen? Wir waren ja damals – waren noch ziemlich viele Eintritte. Aber die
haben ja die Pfarreien auch, nicht? Es ist ja nicht nur alles nur fürs Gymnasium. (Schüler
40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
Überhöhte Leistungsanforderungen und strukturell aufgrund der Arbeitsorganisation angelegte Belas-
tungen und Überforderungen, gegen die man sich nicht wehren und die man auf längere Zeit nicht än-
dern kann, tragen kurzfristig zu einer psychischen Unausgeglichenheit und Gereiztheit bei. Auf Dauer
bringen sie ein Gesundheitsrisiko mit sich. Auch hier bestand wieder die Gefahr, dass die Präfekten ihren
Frust und ihre Aggressionen, deren Quellen diesmal in den Arbeitsbedingungen sprudelten, an die
Schwächeren in der Umgebung weitergaben, ohne dass diese dafür verantwortlich waren. In den Inter-
views finden sich Beispiele, dass es zu besonders brutalen Körperstrafen kam, wenn ein Präfekt z. B.
Migräne hatte, gereizt oder alkoholisiert war.
Der folgende Interviewabschnitt weist auf die langfristigen Folgen für die Präfekten/Lehrer hin und ver-
deutlicht die hohe Arbeitsanforderung ohne freie Zeit und Stille:
I: Nein, nicht bei Ihnen, aber so generell im Kloster: Ist das Thema, dass viele dann auch so
was wie Burnout haben? Oder was man jetzt vielleicht im Nachhinein so – oder so Leute
einfach nicht mehr können.
A: Würd‘ ich schon sagen. Also jene, die sehr lange Präfekt und Lehrer waren – und manche
waren es ja zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre –, da waren eigentlich die meisten ziemlich fertig.
Da gibt’s keinen Zweifel. Und manche haben auch Suchten entwickelt.
I: Also es geht schon dann an die Substanz.
A: Ja, ja. Da gibt’s keinen Zweifel. Insofern war ich dann auch ganz froh, dass ich als Präfekt
aufgehört hab‘. Ich hab‘ eigentlich dann auf eigenen Wunsch aufg’hört. Und wie ich im Ta-
gesheim war, das war eigentlich ja dann vergleichsweise gar nichts. Und ich hab‘ dann al-
lerdings ein Problem verspürt: Wie ich nämlich dann im Tagesheim auch nicht mehr war,
sondern nur mehr im Konvent drinnen, hab‘ ich auf einmal eine Leere verspürt, weil so viel
an Nicht-Kontakt und freie Zeit und Stille und so, das hab‘ ich gar nicht mehr gekannt, weil
immer was los war.
I: Das heißt, man hat auch mehr Zeit zum Nachdenken.
A: Ich hab‘ einfach ein großes Loch g’habt, wo ich mir dann gedacht hab‘, ja, ist das dann –
reicht dir das? Nur bin ich dann …
I: An der Stelle mag ich noch … Das heißt andersrum: Man ist durch diese massive Tages-
struktur so eingespannt, dass man eigentlich auch ganz wenig Zeit hat, in sich hineinzuhö-
ren und zu kucken: Wie geht’s mir grad?
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A: Das dürft‘ stimmen, ja.
I: Und dann – also mit der Leere kommt ja das dann, da hat man auf einmal Gedanken:
Passt alles? Also dann kann man ja viel mehr über sich selber nachdenken und reflektieren
oder eben: Wie füll‘ ich das jetzt?
A: Mhm.
I: Also bös formuliert könnte man ja sagen, es ist auch fast ein bissl ein süchtiges Arbeiten
dann.
A: Ja, ist es auch. Das hab‘ ich halt eben im Nachhinein dann auch g’sagt, dass ich in gewis-
sen Phasen fast ein Workaholic war. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Es zeigt sich, dass durch diesen hohen Arbeitseinsatz und die damit verbundenen Leistungsanforderun-
gen wenig Zeit zum Nachdenken über die eigenen Bedürfnisse und die eigene Befindlichkeit vorhanden
war. Der interviewte Präfekt spürte nach dem Ende seiner Präfektentätigkeit im Konvikt erst einmal ein
Loch, bevor sich die Fragen nach seinen Bedürfnissen einstellten. Sowohl die in der Erziehung verinner-
lichte Leistungsdisziplin als auch die äußeren Arbeitsbedingungen erschwerten einen Zugang zu den
eigenen Bedürfnissen. Sofern die eigene Bedürfnisse zu sehr missachtet bzw. unterdrückt wurden
und/oder durch „süchtiges“ Arbeiten verdeckt waren, dürfte dies ohne andere Kompensationsmöglich-
keiten zu einer zusätzliche Grundlage für Gereiztheit, Unzufriedenheit, Aggressivität etc. geworden sein.
Wenn davon sexuelle Bedürfnisse und Wünsche nach Intimität, partnerschaftlichem Austausch etc. be-
troffen waren und eine partnerschaftliche Intimität bzw. Sexualität nicht gelebt wurde, konnte dies auch
zu einem Ansatzpunkt für sexuellen Missbrauch werden.
4.5.4 Mangelnde Ausbildung und Einarbeitung
„Also aus der Sicht vom Benedikt, wenn ich das richtig seh‘, geht er davon aus, dass der
Mensch zuerst einmal Gemeinschaft, Korrektur und so weiter braucht, bis er dann irgend-
wann einmal vielleicht fähig ist, allein zu werkeln. Aber das war ja da eher umgekehrt. Man
ist ja eigentlich sofort allein.“ (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Was das konkret bedeutet, zeigt der folgende Interviewabschnitt des gleichen Interviewpartners. Hierin
weist er einerseits auf den plötzlichen Arbeitseinsatz hin, andererseits spricht er die ungenügende Vor-
bereitung und Einarbeitung an. Auch wenn er es nicht direkt erwähnt, gehört hierzu auch die fehlende
Ausbildung:
A: Und ich bin dann reingekommen, weil einer, der Pater Ä., einen Herzinfarkt hatte. Und
dann bin ich Präfekt geworden an seiner Stelle. Das war ganz, ganz plötzlich, ohne jede
Vorbereitung. (…) Ich hab‘ meine Koffer noch nicht ausgepackt g’habt, waren schon die ers-
ten Eltern da. Also es ist eine sehr, sehr schnelle Entscheidung. Und eine Einschulung oder
so was hat’s nicht gegeben. Ich war natürlich geschult als langer Internatsschüler, in dem
Sinn schon, aber ob das eine gute Schulung war, ist eine andere Frage. Und es hat dann un-
gefähr eine halbe Stunde, würd‘ ich sagen, ein Gespräch gegeben mit dem Chef damals, Pa-
ter Q., der mir g’sagt hat, worauf er Wert legt, wie das funktioniert als Präfekt: fertig. Das
war die Einschulung.
I: Jetzt durch das Priesterstudium, da ein bissl Pädagogik: Hat das ein bissl geholfen?
A: Nein. Gar nichts. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Keiner der geistlichen Präfekten berichtete, dass er zuvor als „Aushilfspräfekt“ oder Springer etc. einge-
setzt wurde. Somit hat man einem ausgebildeten Priester mit entsprechender Konviktserfahrung, aber
ohne entsprechend fundierte pädagogische Ausbildung zum Heim- bzw. Internatspädagogen und ohne
unterstützende Einarbeitung, die Ausübung der Präfektentätigkeit zugetraut bzw. zugemutet. Trotz feh-
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lender professioneller pädagogischer Kompetenzen war er ab Tätigkeitsbeginn sofort alleine und eigen-
verantwortlich für die Betreuung einer Konviktsabteilung zuständig.
I: Sind Sie in irgendeiner Form auf Ihre Präfektentätigkeit vorbereitet worden?
A: Nichts.
I: Nichts.
A: Meine Vorbereitung war: (Mönchsname des Paters, d. V.) sei streng, aber du musst auch
wie ein Vater sein. Das war meine pädagogische Vorbereitung.
I: Und wer hat das gesagt zu Ihnen?
A: Der Abt. (Präfekt ab 60er Jahre, Schüler 40er Jahre)
Eine Ausnahme hierzu stellt der erste weltliche Präfekt dar. Er hatte zwar auch keine entsprechende
Ausbildung absolviert, wurde aber in seinem ersten Jahr zunächst als Springer in unterschiedlichen Ab-
teilungen eingesetzt; wobei er im Interview feststellte, dass er keine Tipps oder „anderen Sachen“ be-
kommen habe. Somit hatte er zumindest mit unterschiedlichen geistlichen Präfekten zusammengearbei-
tet und deren Arbeitsweise erlebt, bevor ihm die Verantwortung für eine Abteilung übertragen wurde.
Diese Art der Personalauswahl und -einsatzplanung ohne entsprechende Qualifikation wurde bis zum
Ende des Konvikts beibehalten, und es ist anzunehmen, dass dies absolut im Interesse des langjährigen
Konviktsdirektors war.
A: Also gleich nach dem Studium hat’s geheißen: Präfekt ein Jahr mal. Ja, passt, wirst Prä-
fekt. Ich mein’, ich hab’ schon Religionspädagogik studiert gehabt, aber das was man da als
Pädagogik an der Uni in Salzburg gehört hat, das ist, Entschuldigung, ja … etwas mäßig.
I: Ein bissl theoretische Pädagogik, oder?
A: Erstens theoretisch und zweitens nicht sehr aktuell, weil Leute, die zehn Jahre früher
studiert haben, haben schon ungefähr dasselbe Skriptum gehabt, und auch nicht sehr in-
tensiv. Ja? Aber – ja. Es war halt einfach so, du bist reingeworfen worden und fertig. (Schü-
ler 70er Jahre, Präfekt ab 90er Jahre)
Nach unserem Erkenntnisstand hat es im ganzen Untersuchungszeitraum keine expliziten Bemühungen
im Bereich der Personalentwicklung gegeben. So hat mit Ausnahme von zwei Präfekten, die Ende der
60er Jahre ihre Tätigkeit begonnen haben, kein anderer geistlicher Präfekt eine Fortbildungsmaßnahme
besucht. Wohl angeregt von dem damaligen (kurzzeitigen) Konviktsdirektor haben diese beiden einige
wenige Kurse zur Heimerziehung besucht. Für die anderen scheint sich die Frage gar nicht gestellt zu
haben:
I: Haben Sie nicht das Bedürfnis gehabt als Pädagoge letztlich, der Sie war waren, da so ein
Handwerkszeug zu haben oder zu lernen oder mit den anderen irgendwas zu entwickeln:
Wie geh‘ ich eigentlich um mit …
A: Ja, das wär‘ … Aber wir sind gar nicht auf die Idee gekommen. Es hat dann auch Versuche
gegeben, grad vom Abt U., der g’sagt hat, naa, es soll eine Internatsausbildung sein. Der Pa-
ter Z. und der Pater Ä., die haben dann mal so … Aber wir … Es hat g’heißen: Du weißt eh,
wie der Betrieb läuft. Ja …
I: Das war die einzige Botschaft, die Sie gekriegt haben?
A: Ja, ja. Und jetzt steigst d‘ halt ein da. Ja? (Schüler 50er Jahre, Präfekt ab 70er Jahre)
Aufgrund dieser unprofessionellen Bedingungen mussten sich die Präfekten selbstständig „pädagogi-
sche“ Kompetenzen und Handlungsweisen aneignen, die es ihnen ermöglichten, den speziellen Anforde-
rungen des Erziehungsauftrages des Konvikts im Berufsalltag bestmöglich gerecht zu werden. Somit
wurden die eigenen verinnerlichten Erziehungserfahrungen sowie das Handlungsrepertoire der berufs-
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erfahrenen Kollegen zu wichtigen Orientierungspunkten. Und aufgrund des mangelhaften Austauschs in
pädagogischen Fragen kam der individuellen Auseinandersetzung mit diesen Orientierungspunkten ein
hoher Stellenwert zu. Gemessen an aktuellen Kriterien pädagogischer beruflicher Qualifizierung ist dies
als laienhaft anzusehen. So dient heute in Österreich z. B. der FH Lehrgang „Sozialpädagogische Fachbe-
treuerin/sozialpädagogischer Fachbetreuer“ als Qualifikation zur Heim- bzw. Internatspädagogin/zum
Heim- bzw. Internatspädagogen. Dieser beinhaltet mindestens 1200 Unterrichtseinheiten Theorie und
1200 Stunden Praxis. Außerdem sind später alle zwei Jahre 32 Fortbildungsstunden zu absolvieren.
4.5.5 Übernahme der Gewalt im Erziehungsalltag
Alle interviewten Präfekten haben das Gymnasium in Kremsmünster besucht und waren mit drei Aus-
nahmen interne Konviktsschüler. Aufgrund ihrer individuellen Bewältigungsfähigkeiten und ihrer Positi-
on als Gewinner der gewalttätigen Leistungs-, Selektions- und Strafpädagogik haben sie das Erziehungs-
system sowie einige Präfekten als positiv verinnerlicht. Die positiv erlebten bzw. idealisierten Präfekten
wurden zu prägenden Vorbildern, und das bestehende Erziehungssystem mit seinen gewalttätigen Stra-
fen und Werten ist bei vielen bis heute nicht grundsätzlich hinterfragt. Hierzu trug sicherlich der Ver-
bleib in der klösterlichen Lebenswelt bei, mit dem eine stärkere „Bindung an das Haus“ einherging und
somit an die Tradition und Lebenskultur des Stifts. Die jeweils ältere Präfektengeneration verteidigte die
Erziehungstradition gegen grundsätzliche Veränderungen. Hierzu passend äußerte einer der Präfekten
der jüngeren Generation, dass das „System an sich zu ändern“ nicht machbar gewesen sei. Inwieweit
dies von den jüngeren Präfekten überhaupt versucht wurde, lässt sich nicht beurteilen; dass der Anpas-
sungsdruck hoch war, schon. Die geäußerte Kritik gegenüber der älteren Präfektengeneration an ihrer
Erziehung richtete sich nicht generell gegen Körperstrafen. Diese stellen an sich noch keinen Missbrauch
dar, sondern es kommt darauf, ob sie ungerecht, nicht angemessen oder aus Launenhaftigkeit vergeben
wurden. Hier gab es negative Vorbilder, so wollte man selbst nicht werden. Dies ist aber auf Dauer nicht
allen gelungen. In diese Denkweise passt die Haltung, dass Heranwachsende bei Verfehlungen eine ge-
rechte und angemessene physische Strafe verdienen. Klar ist auch, dass die Erwachsenen definieren,
was Verfehlungen und gerechte/angemessene Strafen sind und ebenso, was eine Kindesmisshandlung
darstellt. Hier sind die Mitarbeiter des Konvikts lange Zeit ihrer pädagogischen Tradition treu geblieben
und haben sich gegen den pädagogischen Wandel in der Gesellschaft gestellt, sogar über den Zeitpunkt
hinaus, als Körperstrafen in der Erziehung gesetzlich verboten wurden.
Der folgende Interviewausschnitt zeigt, wie schwer es Pater Ü. fällt, mit der anderen Auffassung von
Kindesmisshandlung des Interviewers konfrontiert zu werden. Ebenso zeigt er die unreflektierte Über-
nahme der gewalttätigen Strafpädagogik (wobei diese mit der glücklichen Schulzeit in Verbindung ge-
bracht wird). Dadurch entsteht der Eindruck, dass hiermit die Übernahme entschuldigt werden soll, dies
umso mehr als er auch andere Erziehungsvorbilder hatte:
I: Dann ist also die Frage – Sie sagen, es war nur ganz am Anfang, aber mit diesem spani-
schen Rohr, da würde ich sagen, das ist Kindesmisshandlung; das kriegen Sie dann mit. Sie
merken …
A: Naa, aber wir haben das gar nicht als, also wirklich nicht als Misshandlung aufg’fasst.
I: Das kann schon sein, dass Sie das nicht so aufgefasst haben. Wenn ich aber höre, dass da
den Schülern so was …
A: Ja, ja, natürlich, aber …
I: … angetan wird, dann würd‘ ich sagen, es ist Misshandlung; es ist ja mit massiven Schmer-
zen verbunden, mit allem. Eben: Sie haben es eher aufgefasst – also Ihr Freund hat das eher
als Mutprobe gesehen, und Sie haben dann gesagt, es war auch üblich, dass man Ohrfeigen
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kriegt dann: Da ist halt für mich so die Frage: Welche Schlüsse haben Sie denn für sich dar-
aus gezogen, wenn Sie diese Erziehungsstile, sag‘ ich mal, so wahrgenommen haben, für die
eigene pädagogische Arbeit?
A: Hmmm … Ich glaub‘, ich hab‘ daheim nie eine Ohrfeige gekriegt. Also … Bin dann daher
gekommen und ich hab‘ mir gedacht, na ja … Und dafür war dann Kremsmünster, das war
also dann: Auf der ganzen Welt wird das im Internat so sein, in Kremsmünster: Das ist so,
da ist die Ohrfeige da, ist ja klar, da ist die Studierzeit soundso da, ist ja klar – es ist über-
haupt nie eine Hinterfragung oder irgendwas, nie! Nie. Und weil ich – ich muss sagen, ich
bin vielleicht ein bissl eine Ausnahme: Ich war also sehr glücklich immer die ganzen acht
Jahre hier. Ned? (Schüler 50er, Präfekt ab 70er Jahre)
Wie bereits erwähnt war jeder Präfekt verantwortlich, dass seine Abteilung funktionierte. Hierfür dien-
ten ihm die verinnerlichten Erziehungserfahrungen, die überlieferte Erziehungskultur und die Erzie-
hungsziele des Konvikts, das Prinzip der Auslese und die vorgegebene Tagesstrukturierung als Orientie-
rungspunkte. Bei Problemen mit der Disziplin der Konviktsschüler bestand die Gefahr der (autoritären)
Einmischung durch den Konviktsdirektor und, je nach Interesse, auch des Abtes. Ansonsten scheint es
so, dass es einzelnen Präfekten überlassen blieb, wie sie den Erziehungsauftrag sicherstellten und die
Regeln auslegten. Auch wenn es Ausnahmen gab, bestand der Erziehungsalltag lange Zeit in einer eher
strengen bis rigiden, aber auch willkürlichen Regelauslegung und der Androhung bzw. Durchführung von
(handgreiflichen) Strafen. Es galt, sich als Autorität zu etablieren. Im tradierten „Erziehungskonzept“ war
hierfür die Anwendung von psychischer und physischer Gewalt als normales und etabliertes Erzie-
hungsmittel maßgeblich. Selbst brutalste öffentliche Gewaltanwendungen und die Anweisung zur legi-
timierten Strafaktionen unter den Schülern wurden nicht unterbunden.
Es ist davon auszugehen, dass es Präfekten gab, die von Anfang an aufgrund verinnerlichter Rollenvor-
bilder und/oder hohen Aggressionspotenzials wenige bis gar keine Hemmungen zur Ausübung von Ge-
walt hatten. Die Schüler wussten bei ihnen und ebenso bei den etablierten gewalttätigen „Autoritäten“,
was ihnen drohte. Daher mieden sie die offene Konfrontation und versuchten nicht aufzufallen. Ande-
rerseits gab es auch Erzieher, die zuerst die Gewaltanwendung unreflektiert übernommen haben, sich
dabei aber überwinden mussten. Pater Q. hatte vor dem folgendem Interviewabschnitt erwähnt, dass er
Glück mit seinen Präfekten gehabt habe, daher hatte er sicherlich nicht die aggressivsten Rollenvorbil-
der. In seinen ersten drei Jahren betreute er „die Kleinen“. Dort habe er „das System“ übernommen. In
der Arbeit mit den älteren Konviktsschülern, die er als angenehmer empfand, habe er gesehen, dass er
es nicht brauchte („das hat sich da erledigt“). Wobei sich aber die Frage stellt, ob er bei den älteren
Schülern Ende der 80er Jahre bei Gewaltanwendung deutlich mehr Widerstand bekommen hätte; dies
umso mehr, als er an einer anderen Stelle im Interview berichtet, dass ein älterer Präfekt zum Ende sei-
ner Dienstzeit von den Schülern nicht mehr ernst genommen wurde:
A: Nein. Ich hab‘ dann als Präfekt – ich glaub‘, dass ich einerseits sicher die Methoden ein-
fach übernommen hab‘, die ich gelernt hab‘, also …
I: Da hatten Sie ja das Glück, gute Vorbilder zu haben.
A: Ja, ja. In dem Sinn hab‘ ich ein Glück g’habt, ohne Zweifel, ja. Ich mein‘, so diese Stan-
dardsachen, Ruhe im Studium, das ist ja klar. Durchsetzung der Nachtruhe zum Beispiel war
immer eine diffizile Angelegenheit. Da hab‘ ich auch die Vorbilder übernommen, die waren
wahrscheinlich nicht so gut. Da hat man halt dann die Leute einfach rausgeholt, eine Stunde
studieren lassen am Abend und dann wieder rein in der Hoffnung, dass sie dann genug ha-
ben oder Ruhe geben.
I: Aber so Gangstehen oder so was hat’s da nicht mehr gegeben, sondern einfach …
A: Also bei mir zumindest nicht.
I: … Strafstudium.
Bericht Stift Kremsmünster
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A: Strafstudium, ja, genau. Ganz am Beginn hab‘ ich auch geglaubt, ich müsste mich durch-
setzen, indem ich auch ein paar Watschen gegeben hab‘, obwohl mir das am Anfang sehr
schwer gefallen ist; hab’s dann auch bald wieder aufg’hört (nach drei Jahren, d. V.), aber
faktisch hab‘ ich das System auch übernommen gehabt. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab
80er Jahre)
Das aggressive Erziehungssystem, das durch die Rahmenbedingungen eher gefördert als eingeschränkt
wurde, hatte auch negative Rückwirkungen auf die Präfekten. Wenn Präfekten z. B. unsicher, ängstlich,
sensibler oder auch gutmütiger waren und sie daher weniger Gewaltpotenzial ausstrahlten und sie es
nicht auf anderen Weg schafften, von den Heranwachsenden anerkannt zu werden, bekamen sie Autori-
tätsprobleme. Für sie war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie von den (älteren) Schülern nicht ernst
genommen bzw. ausgenutzt wurden. Da sie keine so bedrohliche Angstkulisse aufbauen konnten, wur-
den sie zudem schneller zum Kampf um die Einhaltung der Regeln, Ordnung und Disziplin herausgefor-
dert und zur Zielscheibe von Provokationen. Somit stieg für sie der Druck, den Anforderungen der Stelle
und ihres Arbeitsumfeldes gerecht zu werden. Folglich war die Gefahr groß, dass es in Extremsituatio-
nen zu (unkontrollierter) Gewaltanwendung aus dem Affekt heraus kam. Hier zeigt sich die Kehrseite der
Gewaltpädagogik: Sie vergiftet die Beziehungen, Macht steht im Vordergrund, Schwäche wird bekämpft,
und partnerschaftliche Beziehungsfähigkeit kann sich kaum entwickeln. Im folgenden Interviewabschnitt
beschreibt dies Pater Q., der sich zu Strafaktionen zwingen musste:
I: Was war das, was Sie an Ihrer Tätigkeit als Erzieher nie mochten?
A: Na ja … Ich war halt kein Wauwau, musste mich immer zwingen zu Strafaktionen
(…)
I: Und in der Tätigkeit als Präfekt? Was haben Sie da nicht gemocht? Oder wo waren Sie
nicht gut?
A: Ja, ich hab’ Gott sei Dank … Die haben mich in dem Sinn manchmal hintergangen, dass
sie hinausgegangen … Ich hab’ gesagt: Wer sich nicht auskennt, darf mit einem besseren
Schüler rausgehen und darf sich erklären lassen. Natürlich war der Spaß am Anfang, dass
gleich drei, vier hinausgerannt sind und draußen eine Gaudi gemacht haben. Dann hab’ ich
halt das dosiert, hab’ gesagt: Die zwei gehen jetzt hinaus, und wenn die fertig sind, kom-
men die nächsten zwei dran. Was soll ich sagen, wurde natürlich sofort wieder ausgenützt
auch.
I: Also man konnte Sie ausnützen. Waren Sie zu gutmütig?
A: Manchmal schon. Wahrscheinlich schon. Ich war halt von der Natur her – mein Vater ist
auch ein gutmütiger Mensch, meine Mutter war eine herzensgute Frau, das Beißen und
Hinpecken, das ist uns allen nicht so gelegen. Den Wauwau machen, wie wir sagen. Musst
du wieder Wauwau …? Oh! (Schüler 50er Jahre, Präfekt ab 70er Jahre)
Diese beiden Interviewausschnitte verdeutlichen unterschiedliche Arten der Übernahme der Gewalttä-
tigkeit: einerseits eine Übernahme der Arbeitsweise der Vorbilder und andererseits ein Mithalten-
Müssen mit den Methoden der aggressiveren Kollegen. Beide Prozesse tragen somit zur Aufrechterhal-
tung der herrschenden und tradierten Gewaltdynamik in der Erziehung bei. Trotz (anfänglicher) Hem-
mungen bzw. ständiger Überwindungen zu Strafaktionen fand eine Anpassung an die gewalttätige Er-
ziehungstradition, an die gewalttätigen Kollegen und die herrschende Erziehungsatmosphäre statt.
Ein weiterer interviewter Präfekt spricht eindrucksvoll seine Angst vor seiner neuen Aufgabe an. Aller-
dings dreht er dabei die Täter-Opfer-Dynamik um. Er erwähnt nicht, dass seine Angst vor der Masse der
Buben auch darin begründet ist, dass er Angst hatte, die an ihn gestellten Anforderungen nicht erfüllen
zu können und nicht mit seinen Kollegen mithalten zu können. Ebenso fällt an dieser Stelle kein Wort zu
seiner Gewalttätigkeit:
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A: Ich muss schon sagen, ich hab‘ – wenn man g’sagt hat, ein Opfer und Täter –, ich hab‘
mich nie als Opfer gefühlt in den acht Jahren, selber als Student. Aber ich hab‘ mich öfter
als Opfer gefühlt, wie ich dann selber Präfekt war. Ich hab‘ das auch mal dann – wie das
aufgekommen ist, hab‘ ich auch mal dann gepredigt drüber, aus meiner Erfahrung, wie das
… Weil – ned? Wenn man dann die ganze Masse auf sich oder gegen sich oder … Ich hab‘ …
Ich hab‘ … ich kann mich noch erinnern: Wie soll ich das mit der Disziplin schaffen – bevor
ich angefangen hab‘ als Präfekt. Ich hab‘ Angst gehabt vor dieser, vor der Masse! Ned – ein-
zeln sind sie ja eh immer sehr lieb. Durchwegs. Das ist ja das Komische. Aber ich hab‘ im-
mer, immer Angst g’habt.
I: Konnten Sie mit anderen Patres drüber reden und sagen: Eigentlich hab‘ ich echt manch-
mal Angst vor dieser Masse von Buben? Wie sind Sie damit umgegangen?
A: Naa, ich glaub‘, eigentlich ned. Naa, ich hab‘ mir gedacht, die anderen werden vielleicht
auch dasselbe fühlen. Brauch‘ ich gar nicht sagen.
I: Dachten Sie, aber Sie haben es jetzt nicht überprüft, ob das wirklich so ist?
A: Ja. Ja, ja. … (Schüler 50er Jahre, Präfekt ab 70er Jahre)
Ein Reden über die Angst, über die Hemmung oder über die Überwindung zu Strafaktionen fand nicht
statt. Schwächen oder Unsicherheiten zu zeigen, passt nicht ins Bild des Präfekten, von dem erwartet
wird, dass er seine Abteilung im Griff hat, und der Autorität, Stärke und Durchsetzungskraft demonstrie-
ren soll. Es korrespondiert auch nicht mit einer Erziehung, in der Leistungsfähigkeit an erster Stelle steht
und Schwächen bekämpft und die Schwachen geschlagen werden. Schwach zu sein, ist gefährlich, nicht
nur für die Schüler, sondern auch für die Präfekten.
4.5.6 Präfekten, Pädagogik und Beziehung
An dieser Stelle muss nicht mehr auf die Inhalte und Methoden der Pädagogik innerhalb des Konvikts
eingegangen werden. Dies wurde schon vielfach in anderen Kapiteln getan. Hier soll aber anhand der
beiden folgenden Interviewabschnitte ein zentraler Punkt verdeutlicht werden:
I: Gab’s da so was wie, ja, wie soll ich sagen? … So eine Erziehungsidee? Wo Ihnen gesagt
worden ist: Das ist das, was Sie den Buben beibringen sollen. Oder das ist der Geist, in dem
die Buben erzogen werden sollen. Ist Ihnen da was vermittelt worden, was den Buben ver-
mittelt werden soll?
A: Na ja, so in allgemeinen Zügen schon natürlich.
I: Was war denn da das Wichtigste?
A: Na ja, dass sie halt lernen … auch das Benehmen …“ (Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60 er
Jahre)
I: Und gibt‘s da irgendjemand, der überhaupt in der Lage oder fähig ist im Kloster, wirklich
so persönlich und so direkt zu sprechen? Oder …?
A: Wenige. Jetzt vielleicht sogar mehr, seit die ganzen G’schichten hochgekommen sind,
glaub‘ ich, mehr. Aber damals sehr wenig. Wie gesagt, eine gewisse Ausnahme war für mich
damals auch der Pater O., der schon wenigstens versucht hat, direkt und persönlich zu sein
– bei seiner ganzen Vorsicht, die er hat, trotzdem mehr als die meisten anderen. (…)
I: Also so die Frage: Wie geht’s dir? Was hast du für Empfindungen?
A: Aber wie gesagt, ich hab‘ eben nicht erlebt, dass das wirklich ein Thema war. Aber ich
hab’s auch nicht g’macht. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Zentral für die Pädagogik im Stift Kremsmünster ist die Orientierung am Außen und an der Aufgabe. Es
geht um die Anpassung an die vorgegebene Ordnung und um deren Einhaltung; ebenso um die Erfüllung
der Leistungsanforderungen. Erwartet werden Disziplin, Gehorsam Ausdauer, Fleiß, Respekt, Leistungs-
und Unterordnungsbereitschaft. Wer das nicht schafft und/oder wer Probleme macht, wird zuerst be-
Bericht Stift Kremsmünster
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straft und letztendlich aussortiert. Die Zöglinge sollen die äußeren Anforderungen verinnerlichen. Sie
sollen lernen und sich anständig benehmen. Wie es ihnen dabei geht, spielt keine (große) bzw. eine un-
tergeordnete Rolle. Eine Orientierung am Innen, an der psychischen Befindlichkeit des Zöglings, findet
kaum bis keine Berücksichtigung. Nicht nur, dass die Präfekten nicht nach der Befindlichkeit fragen, sie
haben es selbst nur unzureichend gelernt, gleichzeitig auf ihre Bedürfnisse/Gefühle und auf die ihres
Gegenübers zu achten. Als Zöglinge mussten sie lernen, sich dem Willen ihres mächtigen Präfekten un-
terzuordnen: Jetzt verlangen sie dies von ihren Zöglingen. Die Beziehung wird vorwiegend durch Macht
bestimmt, die Fähigkeit zur partnerschaftlichen Beziehungsfähigkeit und zu reifer Intimität30 bleibt un-
terentwickelt. So wundert es auch nicht, dass die Präfekten als Einzelgänger ihre Abteilung führen:
30 „Reife Intimität zeigt sich, wie ich ausgeführt habe, in der Fähigkeit, sich auf einer tiefen Ebene über Gedanken,
Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen austauschen und sich in die jeweilige andere Person einfühlen zu kön-
nen. Reife Intimität kommt weiter zum Ausdruck, wenn zwei Menschen von einer Ich-Stärke heraus in eine gefühl-
volle persönliche, von Vertrauen getragene Beziehung zueinander treten können. Die Fähigkeit zur Intimität bein-
haltet ferner die Fähigkeit, sich auf eine innige Weise mit anderen Menschen einlassen zu können, ihnen Nähe
schenken zu können und zugleich auch in der Lage zu sein, sich selbst von anderen Menschen Nähe schenken las-
sen zu können. Schließlich zeigt sich reife Intimität in der Fähigkeit, die Grenzen und die Intimsphäre eines anderen
respektieren und das eigene sexuelle Verlangen kontrollieren zu können, wenn durch mein Verhalten möglicher-
weise anderen Schaden zugefügt wird.“ (Müller 2010, S. 128)
A: Ja, ich hab‘ eine Außenposition g’habt, ja.
I: … und haben so Ihr eigenes Ding g’macht, wie Sie sich’s halt vorstellen.
A: Eigentlich … Ja, ich hab’s so g’macht, wie ich glaub‘, dass … (Schüler 50 er Jahre, Präfekt
ab 60er Jahre)
„Ich bin auch als Einzelgänger durchmarschiert und g’schaut, dass ich …“(Schüler 70er Jah-
re, Präfekt ab 80er Jahre)
Doch gleichzeitig wird die tradierte Stiftspädagogik mehr oder weniger gemeinsam gegen Neuerungen
abgeschottet. Neue pädagogische Ideen werden mit Argwohn betrachtet. Zwar gibt es sicherlich die
eine oder andere Veränderung z. B. in der Freizeitgestaltung, aber der pädagogischen Linie wird treu
geblieben. Werte wie Glücksstreben, Selbstverwirklichung, Genussfähigkeit, Konsumlust oder die sexu-
elle Revolution sind ein Gräuel. Verstärkt wird dies durch die Dominanz der älteren Präfektengeneration,
die bis in die 90er Jahre im Amt bleiben.
4.5.7 Präfektenkonferenzen und Strafe
All dies wirkt sich auch auf die Präfektenkonferenzen aus. Diese sind vom langjährigen Konviktsdirektor
eingeführt worden. Sie fanden einmal in der Woche statt, und darin wurden die „Vorfälle der Woche“
besprochen. Oftmals habe es eine „Jause“ gegeben, bei der es dann „mehr oder weniger lustig“ zuge-
gangen sei. Diskutiert wurden z. B. praktische Fragenwie Termine und Vorbereitungen oder es wurde
beraten, ob ein Schüler „rausfliegen“ soll. Anhand der Interviews entsteht ein uneinheitliches Bild, in-
wieweit über Strafen gesprochen wurde. Hierzu Ausschnitte aus drei Interviews:
I: Also: Wie schauen Strafen aus? Oder wie geh‘ ich … Oder ich hab‘ da Schwierigkeiten mit
einem Schüler …?
A: Ja, schon in einem gewissen Sinn, aber dann hat’s eher geheißen: Dann muss man sich
halt durchsetzen oder härter durchgreifen oder so in der Richtung. Ist eher so gelaufen.
I: Aber: So wie ich das mach‘ oder so …?
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A: Nein, nicht wirklich. Nein. Also wenn man sich das pädagogisch vorstellt, nicht wirklich.
(Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
I: Ist damals miteinander drüber gesprochen worden, welche Erziehungsmittel in Ordnung
sind und welche Erziehungsmittel man nicht anwenden soll? Wie war das damals?
A: Eigentlich nicht. (Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
I: Wie weit ist denn das auch unter den Präfekten besprochen worden, so dieses, wie man
sanktioniert oder …
A: Die Präfekten haben untereinander immer gesprochen über die Buben und was vorgefal-
len ist. Wir sind auch privat öfter zusammengekommen anlässlich eines Geburtstages oder
Namenstages oder sonst einer Einladung, und da haben wir über die Buben gesprochen.
Und jeder hat gewusst von den Schülern, wie der und der Präfekt handelt. Ned wahr? Der
eine hat eben mehr mit dem Schlüssel vielleicht gehandhabt und hat das Schlüsselbund
einmal geworfen oder was; und der andere, der war freigebiger mit Ohrfeigen. Aber jeder
hat im Letzten ein Wohlwollen gehabt für die Buben, das muss ich bei allen sagen.
I: Wenn Sie sich ausgetauscht haben, haben Sie dann auch gewusst, wie Ihre Kollegen das
handhaben?
A: Ja, ja. Das hat man gewusst. Man hat jeden Präfekten gekannt, aber nicht jeden einzel-
nen Fall.
I: Ja, das ist schon klar.
A: Aber die Grundkategorie, die war klar. (Schüler 40er Jahre, Präfekt ab 60er Jahre)
Es bleibt unklar, wie genau über Strafen gesprochen wurde. Klar ist, dass der Leitspruch war, dass man
bei Problemen strenger sein müsse. Wie das die einzelnen Präfekten umsetzten, scheint bekannt gewe-
sen zu sein, auch wenn nur ein Gesprächspartner dies deutlich ausspricht, mehr oder minder mit ge-
walttätigem Wohlwollen. Hierzu scheint kein größerer Austausch nötig gewesen zu sein. In den Inter-
views sind die Präfekten bemüht, das Ausmaß ihrer Gewalt nicht sichtbar werden zu lassen. Stärkere
Gewalt der Kollegen hat man nicht wahrgenommen. Schlimme Gewalt gab es nach ihrer Darstellung
eher unter den Schülern.
I: Ja. Und haben Sie auch körperliche Attacken mitgekriegt, wo Sie sagen, das war jetzt zu
fest, das war jetzt zu hart?
A: Naa! Naa, da war ich nie dabei. Nur dass ich dann erfahren hab‘, der hat dann deswegen
eine Watschn gekriegt, das …
I: Aber es ging ja nicht nur um Watschen, es ging ja zum Teil auch um körperliche Misshand-
lungen, dass halt wirklich Kinder verdroschen worden sind auch, und so was.
A: Ja, aber … Aber … Naa, also da hab’ ich nichts … Verdroschen, das war immer bei uns im
Zusammenhang mit, dass die von den … von den Mitschülern verdroschen worden sind.
(Schüler 50er Jahre, Präfekt ab 70er Jahre)
Selbst hat man versucht gerecht zu sein oder hat die Ohrfeigen nicht als Methode, wie die anderen,
angewandt oder statt ewigem Pultarrest lieber eine „Watschn“ gegeben. In den Gesprächen entsteht
insgesamt der Eindruck, je massiver die Vorwürfe gegen den Einzelnen sind, desto stärker ist die ent-
sprechende Abwehr, Verharmlosung, Umdeutung oder Verleugnung.
4.5.8 Präfektenkonferenzen und Zusammenarbeit
Aus den obigen Ausführungen wird ersichtlich, dass es in den Präfektenkonferenzen vorwiegend um
organisatorische Fragen, um das Betragen der Schüler und entsprechende Sanktionen gegangen ist. Das
Verhalten der Schüler wurde nicht aus einer psychologischen Perspektive beleuchtet, die z. B. nach den
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Hintergründen ihrer Verhaltensweisen, nach ihrer inneren Befindlichkeit und den psychodynamischen
Wechselwirkungen zwischen den Heranwachsenden und den Präfekten fragt. Grundlegende Diskussio-
nen um die Weiterentwicklung des pädagogischen Konzepts scheint es nicht gegeben zu haben. Ebenso
wenig ging es um die (emotionale) Befindlichkeit der Präfekten im Zusammenhang mit ihrer Arbeit. Es
herrschte dort keine Atmosphäre, wo der Einzelne Unsicherheiten oder Probleme gefahrlos ansprechen
konnte. Es galt, sich zu behaupten und seinen Bereich vor Eingriffen abzuschirmen. Wer Schwäche zeig-
te, riskierte, dass er die unangenehme Seite des autoritären Konviktsdirektors zu spüren bekam.
A: Ich hab‘ nie erzählt, dass ich Probleme hab‘.
I: Das macht man dann auch nicht.
A: Das hab‘ ich gelernt g’habt, dass man das nicht tut.
I: Das darf man nicht. Also man darf keine Schwäche zeigen.
A: Keine Schwächen, nein. War nicht vorgesehen.
I: Aber dass so jemand dann auch g’sagt hat: Ja, du musst auch mal austeilen?
A: Ja, ja, das sicher. Zum Beispiel der Pater Ä. war aber einer, der sehr gutmütig war und
der dann deshalb auch ausgenützt …; und der hat sehr gelitten dann, vor allem unter dem
Alfons sehr gelitten, der ihn dann immer wieder …
I: … ausgespielt hat.
A: … ja, buchstäblich gequält hat, gehänselt hat in aller Öffentlichkeit. Das war sehr, sehr
hart eigentlich.
I: Also weil der eine weiche Seite auch hatte …
A: Genau.
I: Also das heißt, weiche Seite heißt, man ist sofort …
A: Ja, genau, ist gefährlich. Bist d‘ sofort erledigt gewesen.
I: Also egal, wo …
A: Auch wenn wir eingegriffen haben, auch wenn wir g’sagt haben, er soll aufhören; es hat
trotzdem nichts genützt. Es war völlig egal. Das nächste Mal war’s wieder das Gleiche.
(…)
I: Aber ab dem Moment, wo man ein bissl Schwäche gezeigt hat, dann …
A: … dann ist man sicher angegriffen und niedergemacht worden. Das war so seine Art. Er
war jovial, großzügig, alles, und zugleich ein Sadist.
I: Aber das geht ja fast vom Schülersystem dann ins Präfektensystem über.
A: Geht eigentlich in dem Sinn über, ja. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
Diese Passage verdeutlicht die vollkommen unzureichende Professionalität des pädagogischen Han-
delns. Wäre die zugrundeliegende Dynamik thematisiert und vielleicht sogar reflektiert worden, wären
diese Auswüchse zu verhindern gewesen. So geht es z. B. in Teamsupervisionen gerade darum, Belas-
tungen des pädagogischen Personals (etwa durch anspruchsvollere Schüler31) und daraus resultierende
Fehlhaltungen und -handlungen zu vermeiden. Eine entsprechende Offenheit hätte auch die Wahr-
scheinlichkeit erhöht, dass die Missbrauchsstrukturen aufgedeckt worden wären.
31 In den Interviews erhielten wir Hinweise darauf, dass die Präfekten mit einer immer weniger autoritär erzogenen
Jugend an die Grenzen ihrer Pädagogik kamen.
4.6 Beziehungsmacht der Präfekten
Mit dem Eintritt ins Konvikt ging für die Schüler ein abrupter Wechsel ihrer Lebenswelt und ihrer bishe-
rigen Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde etc.) einher. Eine solch schlagartige
Veränderung ist für Kinder um die 10 Jahre als ein kritisches Lebensereignis einzustufen und stellt für sie
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eine erhebliche psychische Belastung dar. Diese mussten die Kinder vor dem Hintergrund ihrer bisheri-
gen Kompetenzen und psychischen Ressourcen bewältigen. Einerseits galt es für sie, mit der Trennung
von den vertrauten Bezugspersonen zurechtzukommen. Andererseits mussten sie schnell und ohne Hilfe
ihrer bisherigen Bezugspersonen lernen, sich in ihrer neuen ungewohnten Umgebung zurechtzufinden.
Es galt die verlangte Gehorsamspflicht und die bestehenden Regeln einzuhalten. Ebenso waren hohe
Leistungsanforderungen zu erfüllen. Darüber hinaus mussten sie ihren Platz bzw. ihre Position in der
Konviktsgemeinschaft finden. Hierzu mussten sie sich mit ihren Präfekten und Lehrern, mit ihren Mit-
schülern und den älteren Schülern arrangieren, sowohl innerhalb ihrer Klasse, ihrer Abteilung als auch in
der gesamten Schülerschaft. Insgesamt galt es mit dem bestehende Erziehungssystem und dem vorhan-
den aggressiven Beziehungsklima zurechtzukommen. Viele litten nach dem Übertritt an (längerfristigem)
Heimweh und mangelnder Geborgenheit. Schlimmstenfalls erlitten sie hierfür auch noch Erniedrigungen
durch Mitschüler und/oder Präfekten. Falls bei der Bewältigung der vielfältigen Aufgaben und bei der
Eingewöhnung keine unterstützenden Beziehungen erlebt wurden, konnten die Belastungen schnell zur
Überforderung werden und auch traumatische Ausmaße annehmen. Einen Hinweis darauf geben die
Abbruchszahlen der Anfangszeit, die sicherlich nicht nur Ausdruck einer mangelnden Leistungsfähigkeit
sind. Aus der Sicht des Ausleseprinzips kam es hierbei zum Ausschluss der „Leistungsversager“ und der
„psychisch Schwachen“. Bei gründlicherem Hinsehen hätte man dahinter auch die Folgen unterschiedli-
cher Gewaltformen erkennen können.
Klar ist, dass sich die Zöglinge je nach Alter und Entwicklungsstand in einer mehr oder weniger vollstän-
dig abhängigen Position gegenüber ihren Präfekten, Lehrern und Eltern befanden. Es galt die Erwartun-
gen der Erwachsenen zu erfüllen. Die Motivation für den Konviktsbesuch war gerade bei abgeschobenen
Kindern oftmals fremdbestimmt. Bei eigener Motivation war dies teilweise ein Abgrenzungsschritt ge-
genüber dem Elternhaus. Den meisten Schülern wurde vermittelt, dass der Besuch des Stiftsgymnasiums
etwas Besonderes sei und der Abschluss ihnen eine erfolgreiche Zukunft ermögliche. Dies motivierte
viele auch, gegen widrige Umstände anzukämpfen. Je nach Ausprägung der autoritären Haltung im El-
ternhaus wurde ihnen der Auftrag mitgegeben, keine Probleme zu machen und in der Schule keinen
Ärger zu bereiten. Wenn sie mit den neuen Bedingungen nicht zurechtkamen, waren sie aber nicht in
der Lage, einfach gehen zu können.32 Ein reguläres Ausscheiden war nur in Absprache mit ihren Eltern
möglich, und der Wunsch danach erzeugte vermutlich deren Widerstand. Soweit sie überhaupt darüber
nachdachten, war eine bewusst gewählte Leistungsverweigerung mit unangenehmen Konsequenzen
verbunden. Kurz ausgedrückt: Wem es nicht gefiel, war aufgrund dieser Umstände meist gezwungen,
sich mit den bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen in der Konviktskultur zu arrangieren.
32 Manche waren aber so verzweifelt, dass sie (zwischenzeitlich) davonliefen.
In dieser stark von Vernachlässigung, Gewalt, Aggressivität und Leistung bestimmten Männerkultur
mussten die Heranwachsenden einen Weg finden, ihre (noch kindlichen) Bedürfnissen z. B. nach Trost,
Zuwendung, Anerkennung, Verständnis, Freundschaft, Schutz, Sicherheit und Geborgenheit zu befriedi-
gen und hierzu passende Partner unter den vorhandenen Mitschülern, Präfekten und sonstigen Perso-
nen aus der Konviktsumwelt zu finden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Beziehung zu
den Präfekten und fokussieren auf die Ausnutzung der kindlichen Bedürfnisse und der Machtposition
seitens der Präfekten.
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4.6.1 Die Machtposition der Präfekten und des Konviktsdirektors
Nicht nur aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsstandes waren die Präfekten mit mehr Macht,
Kompetenz und Wissen ausgestattet als die Zöglinge, woraus sich deren vollständig abhängige Position
ergab. Zusätzlich waren sie in ihrer Position z. B. als Pater, Erzieher, Lehrer, Chorleiter, Schul- und Kon-
viktsdirektor etc. mit weiteren institutionellen Machtbefugnissen ausgestattet, die von der Einrichtungs-
konzeption entsprechend untermauert war. Neben dem tradierten Erziehungssystem mit seiner gewalt-
affinen Pädagogik herrschten im Konvikt noch zusätzliche, den Missbrauch begünstigende konzeptionel-
le Mängel. Hierzu gehören laut Enders (2012, S. 138 ff.):
• Unzureichende Trennung zwischen beruflichen und privaten Kontakten
• Vernachlässigung der Autonomie der Jungen
• Traditionelle Rollenbilder
• Rigide Sexualpolitik
• Missachtung der Grenzen zwischen den Generationen
• Unzureichendes Beschwerdemanagement
• Beschäftigung von persönlich und fachlich ungeeigneten Mitarbeitern
Im Rahmen ihrer Machtfunktion konnten die Präfekten z. B. Zwang ausüben, belohnen, (willkürlich)
strafen, kontrollieren, verbieten, benoten, ausschließen, unterstützen, trösten, Verständnis zeigen, lo-
ben, schlagen, abwerten, missachten, anerkennen, bevorzugen, benachteiligen und auch missbrauchen.
Anhand der folgenden sicher nicht vollständigen Aufzählung soll dies verdeutlicht werden: Sie wachten
über die Einhaltung der von ihnen bestimmten Zeitstruktur, konnten Strafarbeiten vergeben und damit
Freizeit begrenzen. Ebenso legten sie (altersentsprechende) Freiheiten fest. Sie bestimmten die räumli-
chen Gegebenheiten (Ausstattung, Raumnutzung, Aufenthaltszeiten) und hatten zu allen Bereichen je-
derzeit Zugangsrecht. Somit oblag es auch ihrer Entscheidung, wieviel Privatheit und Rückzugsmöglich-
keiten vorhanden waren. Sie legten die Gruppengröße fest und bestimmten die Verhaltensregeln und
Normen der Gruppenmitglieder und steuerten die Gruppendynamik maßgeblich. Sie kontrollierten die
Regeleinhaltung, waren für die Auslegung der Regeln zuständig und konnten ggf. Strafen festlegen und
ausführen. Sie nahmen Einfluss auf die Nahrungswahl und -aufnahme, ebenso auf Getränke und Dro-
genkonsum. Sie vermittelten Wissen, Werte, Normen, katholische Glaubens- und Moralvorstellungen.
Sie konnten sich für einen Schüler einsetzen oder seine Entlassung mitbestimmen. Sie verfügten über
die körperliche Ertüchtigung. Ebenso legten sie fest, wann die Konviktsschüler still und ruhig zu sein
hatten (Lern-, Essens- und Schlafzeiten). Sie hatten großen Einfluss auf die Gestaltung von Nähe und
Distanz. Sie konnten die Intimsphäre der Heranwachsenden missachten und sich grenzüberschreitende
Berührungen erlauben. Sie dienten den Heranwachsenden als männliche Rollenvorbilder und Identifika-
tionsfiguren. Sie waren erste Ansprechpartner in allen Belangen. Sie waren Stellvertreter der Eltern.
Viele Heranwachsenden sahen in ihnen Vaterfiguren.
„Er war für mich deshalb wichtig – ja, er war schon so eine Übervater-Figur in jeder Hin-
sicht. Also, ja, wir waren da auch – so als zehnjähriger Bub sucht man natürlich auch nach
Väterfiguren, einfach Leute, die einen gern haben ganz einfach. Ja? Und da war er sicher so
ein Vaterersatz. Das ist sicher so. Ja, nicht nur für mich, aber auch für mich.“ (Schüler 90er
Jahre)
Speziell wenn Kinder und Jugendliche aus belasteten Familien kamen, einen Mangel an emotionaler
Beziehung und Geborgenheit erlebt hatten, eine große Liebessehnsucht verspürten und/oder ohne Va-
ter bzw. mit abwesenden Vätern aufwuchsen, hatte sie oftmals den Wunsch, im Konvikt Nähe zu einem
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Pater manchmal auch im Sinne eines Ersatzvaters zu finden. Da dies Präfekten bei entsprechender Moti-
vation auch für ihre Bedürfnisse ausnutzen konnten, entstand dadurch eine spezifische Risikolage für
Missbrauch. Aufgrund der uns vorliegenden Dokumente wissen wir von einem Heranwachsenden, der
während der Konviktszeit durch den Tod seines Vater eine Depression entwickelte. Seine Mutter erhielt
in einem Gespräch mit dem Konviktsdirektor die Zusage für schulische und seelische Unterstützung. Im
weiteren Verlauf nutzte der Konviktsdirektor diese Situation aus, sodass der Heranwachsende schwerste
sexualisierte Gewalt über einen langen Zeitraum über sich ergehen lassen musste.
Es zeigt sich, dass einige Präfekten sowohl bevorzugte Lieblinge hatten als auch einige Schüler, die sie
besonders schikanierten. Die Gefahr, zum Sündenbock zu werden, bestand besonders für körperlich
schwache, unansehnliche, ungeschickte Schüler, ebenso für unbegabte oder als „verwöhnt“ oder „ver-
weichlicht“ betrachtete Schüler. Aber auch Schüler, die sich nicht anpassen wollten oder bei ihren Mit-
schülern unbeliebt waren, waren diesbezüglich gefährdet. Diese Schüler litten stark, sie wurde oft zur
Zielscheibe für Beleidigungen und waren vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt. Sie erlebten gezielten
Psychoterror und dienten oft als Prügelknaben. Sie erlebten viel Benachteiligung und hatten einen äu-
ßerst schweren Stand.
Lieblinge wurden dagegen bevorzugt. Sie erhielten mehr liebevolle Zuwendung. Hierzu gehörten z. B.
leistungsfähige Schüler, begabte Musiker oder Sänger, talentierte Sportler, anpassungsbereite, brave
Schüler oder durchsetzungsstarke Schüler. Dies veranlasste so manchen Schüler zu besonderen An-
strengungen, zu Lerneifer, zu zusätzlichen Engagement z. B. als Ministrant oder Hilfskraft (des Präfek-
ten). Begehrt war für viele auch die Position des Seniors. Besonders gegenüber ihren Lieblingsschülern
zeigten die Präfekten ihre freundliche, fürsorgliche und unterstützende Seite. Sie förderten bestehende
Begabungen in der Schule, in der Musik und im Sport. Sie vermittelten ihr Wissen, setzten sich für die
Schüler ein, gaben ihnen Spezialtipps für Prüfungen. Sie spielten mit ihnen Karten, Schach oder organi-
sierten Ausflüge. Darüber hinaus erhielten einige Schüler besondere Privilegien, z. B. einen Schlüssel
zum Abkürzen eines Weges oder gemeinsame Besuche von Konzerten.
„Ja. Also ich war sicher, vom Pater Ü zum Beispiel war ich sicher ein Liebling oder auch einer
der Lieblinge, weil ich halt eine gewisse Affinität für Musik hab‘ wahrscheinlich, mutmaß-
lich, nehm‘ ich an. Da hat’s halt dann wieder so Ausflüge auch gegeben, ein paar Privilegier-
te durften dann mit ihm jausen und so.“ (Schüler 80er Jahre)
Diese Willkür in der Beziehungsgestaltung suggerierte den Heranwachsenden, dass sie mit ihrem Verhal-
ten und persönlichen Eigenschaften dafür verantwortlich sind, ob sie bestraft wurden oder liebevolle
Zuwendung erhielten. In einem professionellen Erziehungsansatz würde dagegen die bestehende Bezie-
hungsdynamik zwischen Erzieher und Kind bzw. Jugendlichen reflektiert werden, um vorhandene Kon-
flikte zu entschärfen, willkürliche Machtanwendung zu vermeiden und entwicklungsförderndes Handeln
zu ermöglichen. Im Erziehungssystem des Konvikts fehlte diese Professionalität.
A: Ja, natürlich haben sich auch meine Blickwinkel aufs Internat verschoben, weil ich dann
gesehen hab‘, dass wir da ein Relikt sind aus vergangener Zeit, die Art, wie wir das machen,
vor allem. Ich hab‘ nicht das Internat an sich so schlecht g’funden als Institution, aber wie
wir das Ganze g’macht haben.
I: Da zwei, drei Sätze dazu? Was heißt das?
A: Ja, das heißt eben genau, dass die die reine (unverständlich) war und die reine Disziplin
nicht ausreicht. Damit kann man den Leuten nicht helfen. Ich hab‘ aber auch gesehen, dass
bei uns keiner ist, der’s wirklich kann, kein Ausgebildeter und keiner von den Jungen, die
man ausbilden könnte. Und damit war mir irgendwie klar, dass das auf Dauer …
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I: … nicht funktioniert.
A: … nichts werden wird. (Schüler 70er Jahre, Präfekt ab 80er Jahre)
4.6.2 Präfektenmacht führt zu sexualisierter Gewalt
Die bevorzugte Stellung brachte den Schülern zwar Privilegien und mehr Nähe zum Präfekten, die einen
Kontrast zur aggressiven Stimmung darstellte, aber auch mit sexuellen Grenzverletzungen verbunden
sein konnte. Das folgende Beispiel zeigt, wie körperliche Nähe von Pater X. als Belohnung (für Lieblinge)
eingesetzt wurde. Gleichzeitig überschritt er dabei die Generationenschranke, sexualisierte die öffentli-
che Atmosphäre und testete die Reaktion seiner Umgebung auf seine öffentlichen sexuellen Grenzver-
letzungen. Allerdings scheint es nichts Ungewöhnliches gewesen zu sein, dass Patres z. B. „ihre“ Minist-
ranten nach der Messe oftmals eher aus eigener emotionaler Bedürftigkeit heraus umarmten oder sogar
(auf die Stirn) küssten. Ebenso diente dieses Verhalten in der Öffentlichkeit zur Annäherung und zur
Auswahl der Opfer. Heranwachsende, die für Körperkontakt nicht empfänglich waren oder in der Lage
waren, sich gegen Übergriffigkeit abzugrenzen, also Widerstand zeigten, vergrößerten die Gefahr, ent-
deckt zu werden. Falls sich später Eltern beschwert hätten, dann hätte das Verhalten als harmlos abge-
stempelt werden können:
I: Ja, aber es gab ja sozusagen auch vom Pater X. eine Form von Nähe, die jetzt nicht als
Strafe empfunden worden ist, sondern dass er auch Nähe zu Schülern aufgebaut hat, wo
man den Eindruck hatte, das sind Lieblinge von ihm …
A: Genau. Richtig.
I: … und man aber trotzdem das Gefühl hatte, diese Nähe ist vielleicht …
A: … ist sehr nahe, sagen wir so. Ist sehr nahe oder sehr bevorzugend oder sehr, ja, zeigt
große Bevorzugung. Oder es ist auch eine intensivere Nähe, ja? Ja?
I: Ja. War das eine Nähe, die man als Schüler auch haben wollte, weil man dachte: Eigent-
lich wär‘ ich auch gerne …?
A: Ja, manchmal schon, weil er halt einfach das durch Belohnungen vergab, durch die Nähe.
I: Auch körperlich, sag‘ ich mal, im Sinne von, dass er halt die in den Arm genommen hat
und geküsst hat?
A: Ja, schon auch. Schon auch, ja?
I: Und das haben Sie auch mitbekommen so?
A: Ja. Schon, ja. Ja. Schon auch. Ich war halt nie sein Liebling, muss ich ganz ehrlich sagen.
(Schüler 70er Jahre)
Im folgenden Interviewabschnitt wird von einer Situation berichtet, die in den privaten Räumen, also
nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfand. Hierdurch schaffte Pater X. für sich Gelegenheiten, schwerere
Missbrauchsformen vorzubereiten und durchzuführen. Anhand der Datenlage wissen wir, dass dieses
systematische Vorgehen typisch für ihn war und er vielfach ähnliche Situationen hergestellt hat. Der
Interviewte schildert sehr genau, wie zielgerichtet Pater X. körperliche Nähe einsetzte und bewusst den
Kontrast zum strengen Regime, also zur aggressiven Erziehungsatmosphäre, nutzte, um Nähe und Ver-
trauen aufzubauen. Er bot sich als Vertrauensperson an, gab sich als väterlicher Freund und nutzte da-
mit die Sehnsucht nach einer liebevollen Vaterbeziehung schamlos aus. Gleichzeitig setzte er Vergünsti-
gungen ein, um sich einzuschmeicheln. Er erweckte in den Opfern den Eindruck einer privilegierten Be-
ziehung, die mit einem besonderen Status in der Gruppe und weiteren Vergünstigungen verbunden war
[Schutz vor Gewalt durch Mitschüler, Machtposition gegenüber Mitschülern (Gestipo, Senior), flexiblere
Regelauslegung, Geschenke, Süßigkeiten etc.]. In der privaten Situation intensivierte er dann den Kör-
perkontakt, überschritt weitere Intimgrenzen und testete auch hier die Abgrenzungsfähigkeit aus.
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I: (…) Bei meinem ersten Erlebnis war mir dann – ist mir auch in guter Erinnerung –, dass ich
mir dann gedacht hab‘: Aha! Er geht über die Grenze! Er küsst einen auf den Mund. Das ist
ja eine richtige … Also er ist nicht nur ein bisschen anzüglich oder macht Witze oder … oder
… Sondern er küsst ein Kind auf den Mund! Das geht gar nicht! Das ist irgendwie einfach
schon die Grenze überschritten.
I: Wie alt waren Sie damals?
A: Damals war ich dreizehn.
I: Und bei welcher Situation war das? Können Sie das mal beschreiben?
A: Na ja, es war so, dass er ja – vorher hab‘ ich das schon ein paarmal erlebt –, dass er im-
mer wieder in – wahrscheinlich war das im Hades auch so –, dass er ab und zu jemand mit-
genommen hat in sein Zimmer, und dann durfte man auf seinem Schoß sitzen und … Mehr
ist da nicht passiert. Er hat dann mir irgendwann mal zu verstehen gegeben, also dieses
strenge Regime ist halt so in Kremsmünster, aber wenn man zu ihm kommt – oder: Jetzt
sind wir unter uns, und jetzt kannst du dich mal aussprechen und kannst auch das Gefühl
haben, dass all die Regeln außer Kraft gesetzt sind; und ich bin jetzt hier als dein Freund
und als dein väterlicher Freund. Und ich hab‘ ihn eigentlich auch so erlebt. Also er war bis
zu einem gewissen Grad auch eine Hilfe für mich.
I: Also er hat einem auch zugehört.
A: Er hat einem zugehört, ja. Ja.
I: Hat aber gleichzeitig auch so was wie Nähe gesucht, also wenn er Sie auf den Schoß
nimmt, zum Beispiel …
A: Genau.
I: Jetzt sind das, kann man sagen, auch zwei Seiten: Die eine Seite ist: endlich mal jemand,
wo dieses Tabu, man berührt niemand, oder wenn eine Berührung, dann ist es Gewalt. Und
das andere ist: Es geht natürlich sofort an eine Grenze oder über eine Grenze.
A: Im Nachhinein, jetzt seh‘ ich’s schon natürlich so, dass er auch bis zu einem gewissen
Grad damit …, dass es Berechnung war, dass er da eine Vertrauensbasis aufgebaut hat lang-
sam. Man hatte ja dann am Schluss das Gefühl, man steht ihm näher als die anderen, man
hat Privilegien; und da will man natürlich auch jetzt nicht als Verräter dastehen, dass man
ihn sozusagen dann anprangert. Man verzeiht ihm eh ja. Und er hat das immer – das hat er
bei allen eigentlich, von denen ich es weiß, im gleichen Schema gemacht: Er hat zuerst die-
ses Vertrauensverhältnis aufgebaut und dann wohl ausprobiert, wie reagiert derjenige. Und
nachdem er gesehen hat bei mir – also ich hab‘ den Mund mit aller Kraft zusammenge-
presst …
I: Also bei Ihnen war es: Er hat Sie geküsst.
A: Genau. Er hat mich auf den Mund geküsst, hat versucht auch, mit der Zunge in meinen
Mund hineinzudringen, und das ist ihm – das hab‘ ich nicht zugelassen; und da hat er dann
einfach gesehen, okay … Da geht nichts. Das hat er auch dann akzeptiert. (Schüler 70er Jah-
re)
Es gehörte Mut dazu, sich gegen einen sonst auch höchst aggressiv auftretenden Pater abzugrenzen. In
dieser Situation konnte der Pater sich und auch dem Jungen einreden, dass er keine körperliche Gewalt
angewendet hat. Gleichzeitig sorgte dieses Nebeneinander von Vergünstigungen und sexuellen Grenz-
überschreitung dafür, dass der Interviewte damals nicht als Verräter dastehen wollte und ihm „eh“ ver-
ziehen hat.
In diesem Bericht verzichten wir bewusst auf ausführliche Schilderungen von massiven sexualisierten
Gewaltanwendungen. Daher soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass die uns vorliegenden Unter-
lagen und Daten klar belegen, dass es im Konvikt über einen langen Zeitraum auch zu schwerem sexuel-
lem Missbrauch unter Gewaltanwendung nach § 206 StGB (vgl. Gerichtsurteil A. Mandorfer) kam. Unter
Ausnutzung ihrer Stellung und ihrer Funktion missbrauchten die Täter das bestehende Autoritäts- und
Abhängigkeitsverhältnis und führten dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen, wie z.
Bericht Stift Kremsmünster
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B. Masturbationshandlungen, Oralverkehr, (versuchten) Analverkehr, an ihren Schutzbefohlenen aus.
Etliche Schüler wurden mehrmals wöchentlich missbraucht, und einzelne duldeten aufgrund ihrer Ab-
hängigkeit mehrere hundert Missbrauchshandlungen bzw. mussten diese über sich ergehen lassen.
Ebenso missbrauchten die einzelnen Täter mehrere Heranwachsende innerhalb des gleichen Zeitraums
über mehrere Jahre.
Im Rahmen der Interviews haben wir keine Informationen darüber erhalten, zu welchem Zeitpunkt sich
die Motivation zum sexuellen Missbrauch auf Seiten der Patres entwickelte. Daher wissen wir im Einzel-
fall nicht, ob sie schon vor der Arbeit im Konvikt bestand oder sich erst dort entwickelte, und wie lange
es bis zu einer eventuellen Umsetzung dauerte; auch nicht, ob bei den Tätern eine pädosexuelle Fixie-
rung vorliegt oder ob sie in der Entwicklung ihrer Sexualität auf einem unreifen Niveau stehen geblieben
sind (vgl. Müller, 2010; S. 126 f.) Genauso ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass nicht alle sexualisierten
Gewalttaten sexuell motiviert sein müssen, sondern diese vielmehr zur Befriedigung von Machtbedürf-
nissen erfolgen können. So nutzen Täter z. B. im Rahmen von Strafritualen ihre Machtpositionen aus
und fügen Ihren Opfern sadistische Formen sexualisierter Gewalt zu (vgl. Enders, 2012, S. 67 ff.).
4.6.3 Umstände der Missbrauchshandlungen und Zölibat
Die Missbrauchshandlungen haben nicht nur die „Lieblinge“ der jeweiligen Präfekten betroffen und
nicht nur in den privaten Räumen der Präfekten stattgefunden, sondern u. a. auch auf Freizeitfahrten,
Studienreisen, im Auto, in der Sporthalle oder im Schlafsaal der Heranwachsenden. Oftmals fanden sie z.
B. im Rahmen von Nachhilfestunden, von angeblich nötigen Untersuchungen zur Pubertätsentwicklung
bei Sängerknaben oder im Rahmen der „sogenannten „sexuellen Aufklärung“ statt. Hierzu haben wir
zwei Berichte in den Interviews erhalten. Einer ist auf das Angebot der „praktischen“ Aufklärung nicht
eingegangen. Der andere wurde zum Präfekten beordert, nachdem dieser Spermienflecken im Betttuch
entdeckt hatte. Anscheinend ist der Interviewte sich bis heute nicht bewusst, dass er hierbei einen se-
xuellen Missbrauch erlebt hat:
I: Pater Q. … Na ja, der hat sich irgendwie bemüßigt gefühlt … ich war in dieser Abteilung,
wo die sogenannten Priesterkandidaten waren, so Sechste, Siebte, Achte … wie er bei mir
auf der Hose beziehungsweise im Leintuch, nicht, so ein … Ding entdeckt hat, nicht, also die
… nicht? Und da hat er mich kommen lassen, und dann, also die Eichel, und hat eben ge-
sagt, wie das funktioniert, nicht. Es war nicht sehr angenehm, aber er hat gefunden, ich
muss darüber Bescheid wissen, wie das …
I: Das hat der dann bei Ihnen gezeigt, wie das geht?
A: Ja. Auch die Masturbation und so weiter. Ned? …
I: Damit Sie Bescheid wissen, wie das geht? Das war aber eine fadenscheinige Begründung,
oder?
A: Ja.
I: Und da waren Sie schon älter, oder? Vierte, fünfte Klasse oder …
A: Ja, ich also, ich weiß nicht, was – ja, Sechste, Siebte wird das gewesen sein.
I: Sechste, Siebte: Da waren Sie zwölf, dreizehn.
A: Mhm.
I: Und ging das dann länger? Oder hat er das bloß einmal gezeigt?
A: … Ja, es war … … ein bissl später schon, also schon sicher fünfzehn, sechzehn war ich
dann, ich war nicht zwölf, dreizehn. … …
I: Und er hat gesagt, das ist wichtig, damit Sie wissen, wie das funktioniert? Wie das geht?
A: Ja.
I: Und das war dann die ganze Erklärung?
A: Ja, Aufklärung oder …
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I: Ja, und hat er Ihnen dann gesagt, Sie sollen das selber so machen auch? Oder das vermei-
den?
A: Da erinnere ich mich eher nicht mehr so genau. Aber ich glaub‘ schon, dass er in die Rich-
tung, weil er eben g’sagt hat, wenn du eben diesen Drang hast, so kann man sich erleich-
tern, nicht, dass das … nicht, wenn man das Verlangen hat, mit Gleichgeschlechtlichen oder
Mädchen so was zu tun …
I: Also dass das praktisch eine Möglichkeit war, das Zölibat besser durchzuhalten, oder?
Dass das eine Möglichkeit war, ohne Sexualpartner zu bleiben. Wenn man sich selbst be-
friedigt, dass dann …
A: Ja.
I: … das Verlangen nach den anderen nicht so groß ist.
A: Richtig, ja. (Schüler 40er Jahre)
Der Zölibat kann nicht als kausale Ursache33 für sexualisierte Gewalt geltend gemacht werden (vgl.
Fernau, Treskow & Stiller 2014, S. 34). Ebenso wenig lässt sich die Behauptung aufrechterhalten, dass
alle missbrauchenden Priester pädosexuelle Präferenzen haben. Eine Studie des John Jay College von
2011 kommt vielmehr zu dem Ergebnis, dass bei weniger als 5 % der beschuldigten Diakone und Priester
eine entsprechende Sexualpräferenz vorzufinden ist.34 (vgl. Fernau, Treskow & Stiller, 2014, S. 34). Der
Zölibat bringt aber andere Probleme mit sich. Hierzu Müller (2010):
33 „Eine direkte Verbindung zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch in dem Sinne, dass der Zölibat die Ursache
für den sexuellen Missbrauch Minderjähriger ist, lässt sich nicht nachweisen. Wer pädophil veranlagt ist und seine
Veranlagung ausleben möchte, den schützt weder der Zölibat noch die Ehe davor, das zu tun.“ (Müller 2010, S.
124)
34 Laut der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)
von 2002 Kapitel V, F 65.4 wird Pädophilie beschrieben als ausschließliche oder überwiegende „sexuelle Präferenz
für Kinder […], die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden“ (vgl. Fernau,
Treskow & Stiller, 2014, S. 34),
„Der Zölibat bzw. eine verzerrte Vorstellung vom Zölibat kann vielmehr die Fähigkeit, sich
mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und sich dem Prozess zu stellen, der zur
Beziehungsfähigkeit führt, erschweren oder sogar verhindern. Das trifft vor allem auf Pries-
ter zu, die in ihrer sexuellen Entwicklung unterentwickelt oder stehen geblieben sind und
die den Zölibat in dem Sinne missverstehen, dass sie meinen, sich nicht mit der eigenen Se-
xualität auseinandersetzen zu müssen. Das eigentliche Problem ist hier die emotionale –
und damit auch die sexuelle – Unreife, die sich dann auch in der Unfähigkeit zu echten Be-
ziehungen und zu echter Intimität zeigt.
So mag für manche Männer, die sich mit ihrer Sexualität nicht wohlfühlen und im Beruf des
Priesters eine sinnvolle Aufgabe sehen, gerade der Zölibat zunächst eine zusätzliche Moti-
vation dafür sein, diesen Beruf zu ergreifen. Ihre sexuelle Unreife und oft damit einherge-
hend auch eingeschränkte Beziehungsfähigkeit werden durch den Zölibat kaschiert, be-
kommen einen schönen Anstrich und werden unter Umständen sogar zu einem Ideal ver-
klärt. Das aber führt dazu, dass der ganze Bereich der Sexualität und Intimität weiterhin im
Dunklen bleibt.“ (Müller, 2010, S. 125 f.)
Gerade im sexuellen Missbrauch von Minderjährigen können dann die sexuelle und emotionale Unreife
und die mangelnde Befähigung zur Intimität ihren Ausdruck finden. Anhand der Interviews wissen wir,
dass die Stiftsangehörigen sich zumeist direkt nach der Matura für die Klosterlaufbahn entschieden hat-
ten, und es war auffallend, wie schwer es für sie war, über sexuelle Themen zu sprechen. Zum Teil fehl-
ten ihnen sogar die Worte hierfür. Durch den frühen Klostereintritt haben sie sich teilweise ohne jegli-
che sexuelle Erfahrung frühzeitig für ein keusches Leben entschieden, ohne wirklich erfassen zu können,
Bericht Stift Kremsmünster
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welche weitreichenden Auswirkungen diese Entscheidung für ihr weiteres Leben hat. Aufgrund der Se-
xualfeindlichkeit der katholischen Kirche und der damit verbundenen Tabuisierung haben sie sich wäh-
rend des Noviziats, wenn überhaupt, nur rudimentär mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt bzw. sich
auseinandersetzen müssen. Oftmals ging es nur darum, den sexuellen Impulsen und sexuellen „Verfeh-
lungen“ mit Hilfe des Gebets, dem Empfang der Sakramente und der Beichte Einhalt zu gebieten. Gera-
de wenn es hierbei um sexuellen Missbrauch ging, war dies ein höchst fahrlässiger Umgang mit einer
Straftat, die weder zur Anzeige gebracht noch nach unserer Erkenntnis immer an entsprechende inner-
kirchliche Instanzen weitergemeldet wurde. Eine wirkliche Reflexion hinsichtlich der Eignung für den
Zölibat und hinsichtlich der eigenen sexuellen Wünsche und Motivationen fand nicht statt. Ebenso hat-
ten die Novizen kaum Möglichkeiten, ihre eventuellen Nöte mithilfe eines Gegenübers ausführlich zu
besprechen, da eine Erforschung und Entdeckung der sexuellen Wünsche und Bedürfnisse mit der Ge-
fahr verbunden waren, dass dadurch die Bereitschaft zum Abbruch der Ordenskarriere erhöht würde.
Zusätzlich gibt es Hinweise, dass im Stift Kremsmünster ein recht laxer Umgang mit der Einhaltung des
Zölibats gepflegt wurde. Hier gilt es zu bedenken, dass viele katholische Priester heimliche Liebesbezie-
hung führen und uneheliche Kinder haben. Für viele ist es nicht möglich, auf Dauer gegen ihr („sündi-
ges") sexuelles Verlangen anzukämpfen. Dies trifft auch für die Priester des Stifts Kremsmünster zu. In-
wieweit diese Doppelmoral, bei der man den keuschen Schein nach außen wahren will, auch dazu beige-
tragen hat, dass der sexuelle Missbrauch an Minderjährigen nicht konsequent aufgedeckt wurde, lässt
sich nur vermuten; genauso, ob einzelne Täter ihr Wissen um die Verfehlungen der anderen als Druck-
mittel zu nutzen wussten.
4.6.4 Sexualisierte Gewalt als Thema in den Interviews mit den Präfekten
Das Ausmaß der psychischen und physischen Gewalt und der damit verbundenen Schuld anzuerkennen,
fiel den Präfekten im Gespräch mit uns schon schwer. Noch schwerer fiel ihnen das bei der Frage nach
sexualisierter Gewalt. Als Beispiel sei hier der Präfekt K. angeführt. Im ersten Gespräch war er nicht be-
reit, über die wahren Gründe für die Beendigung seiner Präfektenzeit zu sprechen. Diese Haltung hielt er
während des gesamten Interviews durch, und so log er auch auf die direkte Frage, ob er sexualisierte
Gewalt ausgeübt habe. In einem zweiten Gespräch wurde er dann mit genaueren Informationen, die wir
zwischenzeitlich erhalten hatten, konfrontiert. In dieser Situation gab er seine Leugnung auf. Ein vertief-
tes Sprechen über sein Vorgehen und seine Vergehen war trotzdem nicht möglich, da er nicht bereit
war, darüber Auskunft zu geben. Auch die Anzahl seiner Opfer, die er mit ca. 15 angab, sowie die be-
hauptete Beendigung seiner Misshandlungen, nachdem er aufgeflogen war und nach sieben Jahren als
Präfekt aber nicht als Lehrer abgezogen wurde, sind anzuzweifeln. Glaubhaft hingegen erschien seine
Aussage, dass er nichts mehr mit der „Sache“ zu tun haben will.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, inwieweit die Mitbrüder des Konviktsdirektors Q. etwas über
seine massiven sexuellen Gewalttaten gewusst haben.
A: Naa, naa … Der Pater Q., der ist schon als Präfekt ganz früh, ganz früh, also der hat 53
maturiert, und er hat dann, ist er 58 geweiht worden und ist aber dann schon Präfekt ge-
worden. Und später Konviktsdirektor. Über ihn sind verschiedene Gerüchte gegangen, aber
man hat es nicht für möglich gehalten, dass da wirklich etwas Schwerwiegendes passiert
wäre. Man hat’s nicht für möglich gehalten. Das ist mal ein Punkt, der festgehalten werden
muss. Man hat g’sagt – denn er hat sich sonst, als Präfekt war er hilfsbereit gegenüber den
anderen Präfekten, und als Konviktsdirektor auch. Wir haben auch viel über die Buben ge-
sprochen. Wir hatten ja jede Woche einmal eine Konferenz …
I: Also eine Präfektenkonferenz.
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Persönliche Hinweise: Es gilt die Unschuldsvermutung. Für externe Inhalte kann keine Verantwortung übernommen werden. Dateien, Zitate, Transkriptionen etc nach bestem Wissen und Gewissen für das Wohl aller Menschenkinder zur Dokumentation und zum Beweis jedoch ohne jegliche Gewähr.