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Ein Mörder für alle Fälle

Begonnen von rote gabi, 29 Oktober 2012, 21:25:38

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rote gabi

Astrid Wagner

Jack Unterweger

Ein Mörder für alle Fälle

Militzke Verlag

Meinen Eltern gewidmet

Besten Dank an Dipl.-Biol. Dr. rer. medic. Mark Benecke für seine
wissenschaftliche Beratung in bezug auf die DNA-Forschung

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Wagner, Astrid:
Jack Unterweger : ein Mörder für alle Fälle /
Astrid Wagner. – Leipzig : Militzke, 2001
ISBN 3-86189-232-4

1. Auflage
© Militzke Verlag, Leipzig 2001
Lektorat: Siegfried Kätzel
Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Ralf Thielicke
Druck und Bindung:

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Eine Mordhatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Der Fall Unterweger kommt ins Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
»Miami Vice« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Endstation Miami, Collins Avenue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
»Jack the Ripper« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
»Nachhilfe« für US-Cops . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Eine Reise ins Zuchthaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
»Hurenbankert« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
»Mord bleibt Mord« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Freiheit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Die »Bombe« aus den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Gerichtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Psychiatrische Ferndiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Die Anklage: Auf alle Fälle schuldig! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
»Vergiß' des, Burli!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Der Richter und sein Häftling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

Medien-Hysterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Platzkarten für den »Jahrhundert-Prozeß« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Es beginnt im Licht der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Eine mörderische Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Ausgangspunkt: Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Mordfall Masser: Verstecktes »Liebesplatzerl« . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Mordfall Schrempf: Wo blieb der weiße Golf
mit den roten Streifen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Mythos Serienkiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Mordfall Bockova: An einem Haar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Mordfall Hammerer: Vier Zeugen gegen einen »Kronzeugen« . . 154
Mordfall Zagler: Spurlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Mordfall Moitzi: Zerschnipseltes Beweisstück . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Mordfall Prem: Mysteriöses Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Mordfall Eroglu: Ein verschwundenes und
ein verschwiegenes Haar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Die Mordfälle in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Der »Jahrhundert-Prozeß« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
»Beweisen Sie Ihre Unschuld!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
»Bestie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
»Der kommt eh nimmer raus!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
»... als Mensch o.k.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Prozeßalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Eine »Familie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
»Keine suizidale Einengung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

»Im Zweifel schuldig!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
»Ich bin verurteilt!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Der Warnbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
»Das Schweigen des Belämmerten« –
Chronologie einer Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

»Tod dem Hurenmörder!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
»Die Strafe endet mit dem Tode« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Ein gehorsames Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
»Sein bester Mord« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Vorwort

Dieses Buch handelt von einem Kriminalfall, der Justizgeschichte
gemacht hat: Jack Unterweger, im Gefängnis zum berühmten Schriftsteller
avanciert, sieht sich nicht einmal zwei Jahre nach seiner
Entlassung mit dem Verdacht des mehrfachen Mordes konfrontiert
und wird um den halben Erdball gejagt.

Es ist kein Zufall, daß ich gerade diesen Fall herausgegriffen habe:
Ich habe den »Jahrhundertfall Unterweger« selbst miterlebt. Als junge,
aber kritische, Unrecht gegenüber sensible Juristin sah ich mich
erstmals mit Erfahrungen konfrontiert, die meine »juristische Schulweisheit
« empfindlich in Frage stellten.

Inzwischen bin ich Strafverteidigerin geworden. In diesem Beruf
habe ich weitere Erfahrungen gemacht, die mich erkennen ließen: Die
Ereignisse um den Fall Unterweger mögen von ungewöhnlicher Dramatik
gewesen sein – einmalig sind sie aber nicht.

Anliegen dieses Buches ist es, meine Sicht des Falles Jack Unterweger
darzulegen und gleichzeitig Fragen aufzuwerfen, die allgemeingültig
sind und die wohl die Grundfesten unserer Strafjustiz betreffen:
Wer kontrolliert eine Polizei, die vielfach unter dem Druck steht,
Ermittlungserfolge um jeden Preis vorzuweisen? Ist der Strafrichter der
»Großinquisitor, der die Anklage zum Erfolg zu führen hat«, wie der
inzwischen verstorbene Präsident der Österreichischen Rechtsanwaltskammer
Dr. Leo Schuppich einmal provokant meinte? Nach welchen
Kriterien werden Geschworene ausgewählt? Wie ist ein Urteil überprüfbar,
das keine Beweise würdigt oder sich mit rechtlichen Erwägungen
auseinandersetzt, sondern sich allein auf den »Wahrspruch
der Geschworenen« stützt? Vor allem: Wie steht es mit der praktischen
Anwendung des Grundsatzes »Im Zweifel für den Angeklagten«, der
alle Strafprozeßordnungen westlicher Prägung durchzieht und sogar
Eingang in die Europäische Menschenrechtskonvention gefunden hat?

Aber es geht nicht nur um die Strafjustiz. Auch sie ist eingebettet in
eine Gesellschaft, deren öffentliche Meinungsbildung ganz wesentlich
von der Jagd der Medien nach Auflagen und Quoten geprägt ist. Kann
da Wahrheit noch ein Anliegen sein? Ein Spannungsfeld, das vor allem
bei Geschworenenprozessen problematisch werden kann ...

Astrid Wagner

7

Eine Mordhatz

Der Fall Unterweger kommt ins Rollen

Der erste Jäger

Stein an der Donau, am Karfreitag des Jahres 1983. Ausgerechnet in
dieser altertümlich-romantischen, in Weinbergen eingebetteten Kleinstadt
liegt Österreichs größte Justizanstalt. Der 33jährige Jack Unterweger
verbüßt hier eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen eines 1974
verübten Mordes. Die Jahre im Gefängnis haben den Häftling anscheinend
geläutert: Er hat seine Vergangenheit durch Schreiben von
Büchern aufgearbeitet, wovon eines in diesem Jahr großen Erfolg
erlangte und ihn bekanntmachte. An diesem Tag jedoch bekommt er
»Besuch« von drei Beamten der Kripo Salzburg. Sie sind gekommen,
um ihn wegen eines weiteren Mordfalls aus dem Jahre 1973 zu befragen:
Die 23jährige Marica Horvath war gefesselt und mit einem Knebel
im Mund in den Salzachsee geworfen worden, wo sie ertrank. Einer der
Beamten, August Schenner, ist überzeugt, in Jack Unterweger den
Täter gefunden zu haben. Der gibt sich arrogant: Er hat ein sicheres
Alibi und fragt den Kriminalbeamten, was er von ihm eigentlich wolle.
Sieben Stunden dauert das Verhör, am Schluß sind es nur noch aggressive
Wortgefechte. Schenner muß unverrichteter Dinge wieder abreisen.
Doch er kündigt »seinem Mörder« an: »Unterweger, solltest du je
vom Zuchthaus freikommen, werde ich dafür sorgen, daß du dorthin
wieder zurückkehrst.« Dann hört Jack Unterweger jahrelang nichts
mehr von August Schenner.

23. Mai 1990: Jack Unterweger wird auf Bewährung entlassen. Das
Strafgesetzbuch ermöglicht auch bei lebenslangen Haftstrafen eine
vorzeitige Entlassung durch Gnadenakt des Bundespräsidenten – freilich
erst nach einer Mindesthaftzeit von fünfzehn Jahren und aufgrund
eines psychologischen Gutachtens und überdies nur bedingt: Im Fall
einer neuerlichen Verurteilung wegen »einer auf der gleichen schädlichen
Neigung beruhenden Straftat«, wie es im Juristendeutsch heißt,
wird die Entlassung sofort widerrufen.

8

Jack Unterweger lebt fortan als freier Schriftsteller und Journalist
in Wien. Kripomann Schenner ist inzwischen fast siebzig und längst in
Pension.

Ein Jahr später, Mai 1991: In Wien sind seit Ende der achtziger Jahre
innerhalb nur kurzer Zeitabstände zwei Kinder und eine achtzehnjährige
Discobesucherin auf brutale Weise erdrosselt und mißbraucht
worden. Das letzte Opfer des oder der unbekannten Sexualattentäter
war ein neunjähriges Mädchen namens Nicole Strau, das mißbraucht
und brutal ermordet in einem Waldstück in der Nähe von Wien aufgefunden
wurde. Die Bevölkerung ist aufgebracht, wie immer, wenn es
um unschuldige Kinder geht. Doch von einem Täter fehlt jede Spur.
Kritische Stimmen werden laut, daß die Polizei angesichts der steigenden
Gewaltkriminalität versagt habe.

Auch im Bereich des Rotlichtmilieus sieht sich die Polizei mit einer
zunehmenden Brutalisierung konfrontiert: Die ungeklärten Gewalttaten
und Morde an Prostituierten waren seit Ende der siebziger Jahre
konstant angestiegen. Trotz zahlreicher Hinweise aus dem Milieu auf
perverse Freier war in den letzten Jahren so gut wie kein einziger der
»anonymen«, das heißt durch keine klar nachvollziehbaren TäterOpfer-
Beziehungen gekennzeichneten Morde geklärt worden. Der
Druck auf die Sicherheitsbehörden, endlich Erfolge vorzuweisen,
wächst.

Ende Mai 1991 wird es in zwei weiteren Fällen zur Gewißheit: Am
21. Mai findet man im Wiener Schottenwald die Leiche der schon seit
längerer Zeit abgängigen Prostituierten Sabine Moitzi. Nur zwei Tage
später entdeckt man die Leiche ihrer ebenfalls ermordeten »Kollegin«
Karin Eroglu in einem Waldstück bei Gablitz nahe Wien.

Auch in Graz hatte es seit Mitte der achtziger Jahre mindestens vier
ungeklärte Prostituiertenmorde gegeben. Hier gab es wenigstens ein
Phantombild, das einen Mann mit dickem Gesicht und Vollbart zeigte.
Genau diesen Mann wollten nun Zeugen zu tatkritischen Zeiten im
Café »Jägerstübchen« mitten im Strichgebiet von Wien-Penzing, aus
dem die zwei Wienerinnen verschwunden waren, erkannt haben. »Jagd
nach Dirnen-Killer nun in Wien, Graz und Niederösterreich« titelt der
Wiener »Kurier« im Chronikteil am 25. Mai und berichtet unter einer
Abbildung des Grazer Phantombilds von den Zeugenbeobachtungen.
Am 28. Mai 1991 unternehmen die Beamten des Wiener Sicherheitsbüros
Oberst Friedrich Mahringer und Inspektor Alfred Gary über

Eine Mordhatz 9

Weisung ihres Vorstands Max Edelbacher eine gemeinsame Dienstreise
mit den Beamten der Kriminalabteilung Niederösterreich nach
Graz zur dortigen Bundespolizeidirektion, um eventuelle Gemeinsamkeiten
der Morde zu erörtern. Aber: Es gibt keine Gemeinsamkeiten.
Zumindest nach Meinung der damaligen Ermittler, die in ihrem
Bericht schreiben, daß in bezug auf die ungeklärten Prostituiertenmorde
in Wien und Graz »eine Übereinstimmung in der Form, daß es
sich um den gleichen Täter handeln könnte, nicht vorliegen dürfte«.
Nach ihrer Rückkehr aus Graz nehmen die Wiener Kriminalbeamten
Kontakt mit der Kriminalabteilung Vorarlberg (Leiter: Major Günther
Geiger) auf, wo ebenfalls mehrere ungeklärte Gewalttaten an Prostituierten
vorliegen. Auch hier gelangen die ermittelnden Polizeibeamten
zum eindeutigen Ergebnis, daß kein Zusammenhang mit den
Mordfällen in Wien bestehe.

Nur drei Tage später, am 31. Mai 1991, langt bei der Bundespolizeidirektion
Wien ein »Hinweis zu den jetzigen Prostituiertenmorden«
ein: »[...] wird von der BPD Salzburg bekanntgegeben, daß ein gewisser
Jack Unterweger [...] vor längerer Zeit in Salzburg zwei Prostituierte
ermordet hatte« und »heuer entlassen« worden sei (Aktenvermerk
der BPD Wien vom 31.5.1991 zu II-5770/SB/91).

Hinter der »Bundespolizeidirektion Salzburg« stand einer, der trotz
seines Ruhestandes nicht zur Ruhe gekommen war: August Schenner
hatte »seinen Mörder« Unterweger nicht vergessen. Jack Unterweger
war allerdings nicht erst »heuer«, sondern schon ein Jahr zuvor entlassen
worden. Und er war auch nicht wegen zweifachen Prostituiertenmordes
vorbestraft.

Aber die Jagd konnte beginnen.

Am Strich nie gesichtet ...

Aufgrund des Hinweises aus Salzburg führen die Kriminalisten zunächst
im Prostituiertenmilieu vertrauliche Erhebungen durch, um zu
überprüfen, ob Jack Unterweger hier Kontakte pflegt. Daneben wird
er ohne sein Wissen observiert. Erst als dies alles negativ verläuft, wird
Jack Unterweger Anfang Juni 1991 vom Chef des Wiener Sicherheitsbüros,
Max Edelbacher, von der Intervention aus Salzburg informiert.
Jack sieht seinen Verdacht jetzt bestätigt: Er habe schon seit Wochen,

10 Eine Mordhatz

vor allem in den Nachtstunden, anonyme Anrufe eines Mannes mit
älter klingender Stimme erhalten, der ihm die »Rückkehr ins Zuchthaus
« angedroht habe und offenbar seine Lebensgewohnheiten auskundschaften
wollte – war es sein alter »Jäger« Schenner gewesen?

Obwohl die Beamten keine Hinweise haben, wird »der Ordnung
halber« ein Vernehmungstermin vereinbart: Jedoch erst für den
Herbst, da Jack Unterweger im Sommer in die USA verreist. Vorher
interviewt er aber noch den Polizisten Edelbacher für die Radiosendung
»Journal Panorama«, in der es diesmal um ein heißes Thema
geht: Die ungeklärten Morde im Wiener Rotlichtmilieu.

Nach seiner Rückkehr aus den USA kommt Jack Unterweger wie
vereinbart in die Wiener Roßauer Kaserne zum Vernehmungstermin
der Kriminalbeamten. Beim Verhör sind außer SB-Chef Edelbacher
auch die beiden Kriminalinspektoren Ernst Hoffmann und Alfred
Gary anwesend. Inzwischen hatten auch die Zeitungen vom Verdacht
gegen den ehemaligen Häftling Wind bekommen: »Heißer Tip bei
Suche nach Dirnen-Mörder – ist der ›Würger‹ ein ehemaliger Lebenslanger?
Viele Parallelen« lautet die noch bescheidene Schlagzeile im
Chronikteil des »Kurier« vom 1. September 1991. Aber der Schlußsatz
verrät für Insider bereits alles: »Auch einen Spitznamen hat der
Dirnen-Killer bereits bekommen: Jack the Struggler ...«

Auch die anonymen nächtlichen Anrufe bei Jack Unterweger waren
seit seiner Rückkehr aus den USA häufiger geworden. Am 5. September
stattet er von sich aus dem Wiener Sicherheitsbüro einen neuerlichen
Besuch ab, um den Beamten seine Bedenken mitzuteilen. Doch Inspektor
Hoffmann beruhigt Unterweger: Er bestätigt ihm, daß alles nur von
August Schenner ausgehe. Er sei selbst nach Salzburg gefahren, um mit
dem alten Kriminalisten zu sprechen, und versichert, daß man diesen
hier in Wien nicht sonderlich ernst nehme. Jack Unterweger erklärt
den Beamten, daß er jederzeit für Fragen zur Verfügung stehe, und so
vereinbart Edelbacher für den 22. Oktober einen weiteren, routinemäßigen
Vernehmungstermin im Wiener Sicherheitsbüro.

Am 13. November wird Jack Unterweger neuerlich von Inspektor
Hoffmann einvernommen: Diesmal geht es um die ungeklärten Grazer
Prostituiertenmorde, da auch die dortigen Polizeibehörden inzwischen
den Hinweis aus Salzburg erhalten und eine Anfrage nach Wien
gestellt hatten. Bei dieser Gelegenheit wird eine weitere Serie von
Lichtbildern von Jack Unterweger angefertigt.

Eine Mordhatz 11

Doch die Ermittlungen können den Verdacht gegen Jack Unterweger
in keiner Weise erhärten – ganz im Gegenteil: »Vorerst wurden,
ohne an ihn heranzutreten, vertrauliche Erhebungen durchgeführt.
Es wurden auch teilweise Observationen durchgeführt um festzustellen,
ob er Kontakt zu Prostituierten pflegt, verlief dies jedoch negativ.
[...] Von Unterweger wurden Polaroid-Lichtbilder angefertigt und
wurden diese den Prostituierten im Strichgebiet, von welchem die
4 Prostituierten verschwunden waren, vorgelegt. Es konnte sich jedoch
niemand an die Person des Unterweger erinnern. Auch das auf ihn
zugelassene Kraftfahrzeug wurde im fraglichen Strichgebiet nie gesehen.
« (Bericht des Sicherheitsbüros der Bundespolizeidirektion Wien
vom 4.11.1991 zu II-5.710-SB/91). Das Fahrzeug Jack Unterwegers war
auf das auffallende Kennzeichen »W-JACK 1« zugelassen.

Die Beamten machen es sich nicht leicht. Es werden sogar die Akte
jenes Mordfalles aus Deutschland herbeigeschafft, für den Jack Unterweger
1976 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, sowie die des
bis heute ungeklärten Mordfalles an Marica Horvath, in dem bekanntlich
Inspektor Schenner Unterweger verdächtigte: »Es konnten keine
Parallelen zu den hs. Prostituiertenmorden gefunden werden. Die
einzige Gleichheit ist, daß es sich bei den Opfern um Prostituierte handelt
« (Bericht des Sicherheitsbüros der BPD Wien vom 4.11.1991).
Letzteres ist allerdings falsch – das Mordopfer aus dem Jahre 1974 war
keine Prostituierte gewesen. »Bei der Überprüfung konnten keine
Anhaltspunkte für eine mögliche Täterschaft des Unterweger bei den
Prostituiertenmorden gefunden werden«, heißt es in mehreren Polizeiberichten
aus dieser Zeit.

Die Schlinge zieht sich zusammen

Noch im Dezember 1991 wird Dr. Ernst Geiger zum neuen Leiter der
Mordkommission im Wiener Sicherheitsbüro bestellt. Er folgt dem altgedienten
Dr. Hannes Scherz und löst auch gleich einige von dessen
Beamten ab: Oberst Friedrich Mahringer und Inspektor Alfred Gary,
verdiente Beamte, die schon seit 1987 in den ungeklärten Wiener
Prostituiertenmorden ermittelt und auch Jack Unterweger beschattet
bzw. einvernommen hatten, werden anderen Aufgaben zugeteilt. Nur
Inspektor Hoffmann bleibt im Team.

12 Eine Mordhatz

Der 38jährige Geiger ist seit 1978 im Polizeidienst. Erst wenige
Monate zuvor, am 1. Februar 1991, war er zum stellvertretenden Leiter
des Wiener Sicherheitsbüros aufgestiegen.

Der ehrgeizige Geiger verstand es, in der Causa der ungeklärten
Prostituiertenmorde kräftig umzurühren. Die ersten Protokolle von
Prostituierten, die Jack Unterweger als »Strichkunden« erkannt haben
wollten, stammen bereits vom Dezember 1991. Dann kontaktiert
Geiger den damaligen Mordgruppen-Chef der Grazer Kripo, Franz
Brandstätter. Die vielen ungeklärten Grazer Prostituiertenmorde hatten
der steirischen Landeshauptstadt inzwischen den wenig schmeichelhaften
Ruf der »Hauptstadt der Prostituiertenmorde« eingebracht.
Und das, wo doch der altgediente, bereits seit 1964 im Dienste
der Grazer Kripo tätige Inspektor Brandstätter bei seinem Amtsantritt
am 1. Dezember 1982 das Versprechen abgegeben hatte: »In meiner
Ära wird es keinen einzigen ungeklärten Mordfall geben!«

Zwei der zentralen Figuren in der Causa Unterweger stehen nun in
persönlicher Verbindung. Vom Wiener Sicherheitsbüro aus werden
auch die Kriminalabteilungen und Bundespolizeidirektionen der
anderen Bundesländer vom Verdacht gegen den ehemaligen Lebenslänglichen
in Kenntnis gesetzt. Einige scheinen den Hinweis aus Wien
dankbar aufgenommen zu haben: So fällt in einem Mordfall an einer
Prostituierten in Bregenz auf, daß die Ermittlungen gegen einen
Mann, den man bisher aufgrund schwerwiegender Indizien als tatverdächtig
betrachtete, jetzt nicht mehr fortgesetzt werden. Die Wiener
und Grazer scheinen einen »verdächtigeren Täter« zu haben. Die
Schlinge um Jack Unterweger zieht sich zusammen ...

Der Haftbefehl

Bald beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Der Ausgangspunkt
ist Graz, die »Hauptstadt der Prostituiertenmorde«. Hier hatte
die Kripo Mitte Jänner 1992 ebenfalls begonnen, nach Prostituierten
zu suchen, bei denen Jack Unterweger Kunde gewesen sein soll. Am

17. Jänner wird der Verdächtige dann von Inspektor Brandstätter persönlich
zu den Morden einvernommen. Im Anschluß an das Verhör
wartet bereits der Polizeireporter der steirischen »Kleinen Zeitung«,
Hans Breitegger, im »Türkenloch«, einem Lokal gleich neben der

Eine Mordhatz 13

Polizeidirektion. Er will Jack Unterweger »interviewen«. Als aufstrebender
Polizeireporter verfügt Hans Breitegger naturgemäß über
beste Kontakte zur Grazer Kripo – sein Spitzname unter Journalistenkollegen
ist »Inspektor Breitegger«. Unterweger ist jetzt nicht allein,
eine Freundin ist mitgekommen. Beim Verhör hatte sie nicht dabei
sein dürfen, weil das nach österreichischer Strafprozeßordnung nicht
erlaubt ist. Als Unterweger kurz hinausgeht, stellt »Inspektor Breitegger
« auch ihr ein paar ganz »private« Fragen. Könnte ja was Interessantes
herauskommen.

Zurück nach Wien: Geiger nimmt jetzt Kontakt mit der dortigen
Staatsanwaltschaft auf. Er überreicht dem Leiter der Staatsanwaltschaft,
Dr. Werner Olscher, die von ihm verfaßte Strafanzeige gegen
Jack Unterweger. Darin heißt es erstmals, daß »mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit« davon ausgegangen werden könne, daß
alle Morde an Prostituierten in Wien, Graz und Bregenz von einem einzigen
Täter verübt worden seien. Eine kühne Feststellung: Denn in vielen
Fällen war nicht einmal die Todesursache der Opfer bekannt.

Das Gerücht vom »Dirnen-Killer Unterweger« gelangt rasch in
Milieu und Medien. Am 24. Jänner prahlt ein Redakteur einer Wiener
Illustrierten in der »Flamingo-Bar« am Gürtel mit seinen »Insider-
Kenntnissen« in bezug auf die Wiener Dirnenmorde: »Ich weiß von der
Polizei, daß das der Unterweger war! Was sagt's ihr dazu?«

Am 10. Februar kommt es zu einer internen Besprechung im Büro
des Leiters der Wiener Staatsanwaltschaft, an der auch der nach der
Geschäftsordnung zuständige Staatsanwalt Dr. Michael Scharf, Ernst
Geiger sowie Exekutivbeamte der Kriminalabteilung Niederösterreich
teilnehmen. Die Polizisten versuchen energisch, die Staatsanwaltschaft
von der Dringlichkeit des Falles und von der Notwendigkeit eines
Haftbefehls zu überzeugen. Was allerdings in den der Justiz überreichten
Unterlagen und später auch im Gerichtsakt fehlte: Die seinerzeitigen
Observations- und Erhebungsberichte der Amtsvorgänger
Geigers, die keinerlei Hinweise auf Jack Unterweger erbracht hatten.
Doch das vorliegende Aktenmaterial – im wesentlichen die Hypothese
vom »einzigen Täter«, die allerdings durch keine Fakten untermauert
werden konnte, sowie einige Aussagen von Straßenprostituierten
– reichte für den Staatsanwalt Scharf längst nicht aus, um einen Haftbefehl
zu begründen. Er lehnt die Ausstellung eines Haftbefehls gegen
Jack Unterweger ausdrücklich ab.

14 Eine Mordhatz

Daraufhin beantragt Geiger eine Hausdurchsuchung in der
Wohnung des Verdächtigen. Dies sollte aber durch die kommenden
Ereignisse überholt werden.

Mit dem 12. Februar wird die nach jeder Entlassung aus einer langjährigen
Haftstrafe vorgesehene Bewährungshilfe für Jack Unterweger
aufgehoben. Der Bewährungshelfer, der sich bei Unterweger immer
ziemlich überflüssig vorgekommen war, sagte später dazu: »Ich hatte
den Eindruck, Herr Unterweger verstehe es bestens, seine Interessen
selbst zu vertreten.«

Nur vier Tage nach der Ablehnung des Haftbefehls durch die Wiener
Staatsanwaltschaft entscheidet ein Grazer Untersuchungsrichter
anders: Am 14. Februar 1992 um 14 Uhr genügt ein kurzer Anruf vom
Grazer Mordgruppen-Chef Inspektor Brandstätter bei U-Richter Dr.
Wladkowski, der sogleich den Haftbefehl gegen Jack Unterweger ausstellt.
Die offizielle Begründung für den »dringenden Tatverdacht«:
Bei seiner Vernehmung rund einen Monat zuvor hatte Jack Unterweger
angegeben, seiner Erinnerung nach in der Nacht vom 7. zum

8. März 1991 – da war die Grazer Prostituierte Schrempf verschwunden
– in Wien gewesen zu sein, um seine nächste Theatertournee zu planen
und Termine vorzubereiten. Es ist der in diesem Fall nicht mehr unbekannte
Polizeireporter und Hobby-Inspektor Hans Breitegger, der
Brandstätter den entscheidenden Tip gibt: Er hat im Veranstaltungsprogramm
der »Kleinen Zeitung« nachgeblättert und, siehe da: Unterweger
hatte am Abend des 7. März eine Lesung im rund 40 Kilometer
von Graz entfernten weststeirischen Köflach! Für die Polizei ist das
»falsche Alibi« Unterwegers damit erwiesen, nur einige kleine »Zeitkorrekturen
« sind noch erforderlich: Der Beginn der Lesung wird
kurzerhand eine Stunde vorverlegt – 19 statt 20 Uhr –, sodann werden
einige Lesungsteilnehmer telefonisch nach der Dauer befragt, und
schon hat man ein »Zeit-Weg-Diagramm« zusammengestoppelt: Jack
Unterweger war zur Mordzeit in Graz.

Die um 18 Uhr erscheinende Abendausgabe der »Kleinen Zeitung«
des 14. Februar hat ihre dicke Schlagzeile: »Haftbefehl gegen Jack
Unterweger!« Über vier ganze Seiten berichtet »Inspektor« Hans
Breitegger über die »Mordserie« und den »dringend tatverdächtigen«
Unterweger. Die anderen Redaktionen wissen zu diesem Zeitpunkt
noch nicht einmal, daß es einen Haftbefehl gegeben hat. Auch das am

Eine Mordhatz 15

17. Jänner nach der Einvernahme im »Türkenloch« gemachte Interview
wird an diesem Tag abgedruckt. Ganz so, als ob »Inspektor«
Breitegger die baldige Verhaftung Unterwegers damals schon vorausgesehen
hätte ...

16 Eine Mordhatz

http://www.militzke.de/sachbuch_krimi/_pdf/2328.pdf
Es gilt die Unschuldsvermutung.